Gera. Im Januar 1990 ist die erste Ausgabe der Ostthüringer Nachrichten erschienen. Die vormalige Volkswacht-Redaktion hatte sich vom Herausgeber SED losgesagt – ein Stück Pressegeschichte.

Tino Zippel, Stellv. Chefredakteur
Tino Zippel, Stellv. Chefredakteur © Andreas Wetzel | Andreas Wetzel

„Gestern zog die Redaktion einen Schlußstrich unter die Volkswacht. Ab heute erscheinen wir für Sie als unabhängige Tageszeitung Ostthüringer Nachrichten.“ Die Zeitung, mit der Ullrich Erzigkeit nervös herumfuchtelt, trägt nicht nur den einmaligen Doppeltitel, sondern auch die Nummer 1.

Vor der Johanniskirche Gera bibbern an diesem 18. Januar 1990 die Menschen bei zwei Grad Celsius. 40.000 sind gekommen und hören bei der Friedensandacht, dass sich die Volkswacht von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) losgesagt hat.

Ullrich Erzigkeit spricht am 18. Januar 1990 zu Demonstranten, die sich in der Geraer Johanniskirche versammelt haben.
Ullrich Erzigkeit spricht am 18. Januar 1990 zu Demonstranten, die sich in der Geraer Johanniskirche versammelt haben.

Unabhängigkeit lautete die neue Linie, erläutert der seit einem Tag amtierende Chefredakteur. „Es gab Applaus, aber auch Buh-Rufe“, erinnert sich Jan Dressel, der für die Ostthüringer Nachrichten (OTN) berichtete. Mitte der 1980er Jahre war er als Jung-Redakteur zur Volkswacht gekommen. Wie alle Zeitungen zur damaligen Zeit stand sie unter den Fittichen einer Partei oder Organisation: Seit 1952 war sie das Organ der SED im Bezirk Gera.

Honecker entscheidet über Polizeimeldung

Wie der Journalismus in der DDR funktionierte, offenbart ein Schreiben vom 13. Januar 1987, das an den Staatschef Erich Honecker gerichtet war. Stasi-Chef Mielke berichtete von einem Vorfall in Gera. Ein Wachmann seines Ministeriums hatte eine Dienst-Makarow entwendet. Mit der Pistole schoss er den neuen Partner seiner Ex-Freundin in der vollbesetzten Nachtbar des Interhotels Gera an und richtete sich selbst.

In Abstimmung mit dem Genossen Ziegenhahn wird vorgeschlagen, im Bezirksorgan der SED Gera Volkswacht eine kurze Meldung dazu zu veröffentlichen. Beiliegend wird der Entwurf einer solchen Meldung mit der Bitte um Entscheidung übersandt, heißt es im Schreiben. „Einverstanden“, signierte Honecker. Der im Buch „Mordfälle im Bezirk Gera“ veröffentlichte Brief zeigt, wie die Partei die Berichterstattung lenkte.

Auch in der täglichen Arbeit war es üblich, dass die SED-Führungskader Vorgaben machten, berichtet Erzigkeit. Er leitete in den 1980er Jahren die Sportredaktion der Volkswacht. Selbst bei diesen Themen mischten sich die SED-Oberen ein: „Ich habe Ärger bekommen, als ich über die neue Laufhalle in Jena berichtet habe. Die Begründung: Leistungssportobjekte sind Geheimsache.“

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Titelseite der OTZ-Erstausgabe vom 1. Juli 1991
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Zentralkomitee in Berlin gab die Richtung vor

Das Zentralkomitee in Berlin bestellte im monatlichen Rhythmus Führungskräfte der Zeitungen ein, um Argumentationslinien zu verteilen. Entsprechend lasen sich die Beiträge von der Überlegenheit des Sozialismus. Und die Probleme der Bevölkerung? Weitgehend Fehlanzeige! Die SED-Bezirksleitung hatte sogar eine eigene Telefonleitung zur Chefredaktion gezogen. „Als in den 1980er Jahren das Fleisch knapp war, durften wir am Wochenende in der Beilage nur fleischlose Rezepte veröffentlichen“, erinnert sich Redakteur Dressel an eine von vielen Vorgaben.

Er berichtet auch von manipulierten Fotos, die den ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Herbert Ziegenhahn, zeigten. Dem Raucher retuschierten sie schon einmal die Zigarette aus der Hand oder zogen Bügelfalten in die knittrige Hose. Und das ohne Photoshop. „Da wurde viel Aufwand getrieben“, sagt Dressel kopfschüttelnd. Allerdings sei er nicht sicher, ob „wirklich alles vorgegeben war oder einige im Übereifer agierten“.

In die Themenplanung hatte die Partei genauesten Einblick. Gemessen am heutigen Zeitungsgeschäft gab es eine langfristige Vorschau. „Immer freitags mussten wir für zwei Wochen im Voraus die abgestimmte Planung für alle Seiten abtippen – mit fünf Durchschlägen“, sagt Katrin Schöpfel, die damals im Redaktionssekretariat arbeitete. Während der Wendezeit war sie gerade im Babyjahr und kennt nur vom Hörensagen die Geschichten, wie über 20.000 Menschen am 11. Januar zum Redaktionsgebäude im Geraer Stadtzentrum marschierten.

„Lügenblatt, Lügenblatt“, skandierte die Menge. Beschäftigte befürchteten, die Demonstranten würden das Haus stürmen. „In ihrer Panik ließen sie das Eisengitter am Haupteingang zum ersten Mal seit dem 17. Juni 1953 herunter“, sagt Erzigkeit. Dieser eiserne Vorhang symbolisierte, wie weit sich die Zeitungsleute vom Volk, von ihren Leserinnen und Lesern, entfernt hatten. Nach dem Mauerfall hatte der Kurswechsel begonnen, aber langsam. In den Redaktionen keimte nun auch Widerspruch und Widerstand. „Eine Fortsetzung der hohlen kommunistischen Propaganda wurde mehr und mehr infrage gestellt“, sagt Erzigkeit. Die Redaktion habe den Chefredakteur, der sich partout nicht aus seiner ideologischen Verbohrtheit befreien wollte und konnte, zum Rücktritt gedrängt.

Andruck der ersten 16-seitigen Ausgabe der
Andruck der ersten 16-seitigen Ausgabe der "Ostthüringer Nachrichten" am 18.01.1990. Von links: Jochen Zaumsegel, Stefan Schwarze, Ullrich Erzigkeit, Volkmar Fischer, Karl-Heinz Kahnt, Holger Clauberg, Eberhard Sommer.

Den neuen Chef Klaus-Peter Wattenbach bestimmte noch die Herausgeberin SED. Eine Parallelwelt spiegelt die Volkswacht noch immer wider. Als überall die alte Gesellschaft zusammenbricht, erscheinen noch in der zweiten Novemberhälfte 1989 Schlagzeilen wie „DDR-Bürger sprechen sich eindeutig für Sozialismus aus“ oder „Wie Kommunisten sich zum Neubeginn formieren“ auf der Titelseite.

Auch intern, so erinnert sich Erzigkeit, sei die Redaktion gespalten gewesen. Ein Teil habe noch auf die Agitatoren aus der SED-Bezirksleitung gehört, der andere sich an den Leserinteressen zu orientieren versucht. Ausgerechnet die Sportredaktion bearbeitete nun viele Hinweise zu Verwaltungsversagen, Günstlingswirtschaft oder zur gefürchteten Überwachung und Bespitzelung durch die Stasi.

Gewählter Chefredakteur tritt schnell wieder ab

In den Redaktionszimmern ist schon früher viel über die Zustände in der DDR debattiert worden. „Die Sicht überwog, dass die DDR und die SED reformiert werden müssen“, sagt Dieter Hausold. Nach seinem Parteihochschulstudium hatte er 1983 als Redakteur angefangen, war stellvertretender Parteisekretär und in der Wendezeit zum stellvertretenden Chefredakteur aufstiegen. „Wir haben die Abnabelung eingeleitet, indem wir eigenmächtig den Untertitel von Organ der SED-Bezirksleitung in Sozialistische Tageszeitung verändert haben“, sagt er. Zudem räumte das Blatt der Opposition eine Seite ein, die sie in eigener Regie füllen durfte.

Andruck der Nr. 1 des 1. Jahrganges der
Andruck der Nr. 1 des 1. Jahrganges der "Ostthüringer Nachrichten" am 18.01.1990. Von links: Jochen Zaumsegel, Ullrich Erzigkeit, Dr. Klaus Peter Wattenbach (halb verdeckt, mit Brille). Ganz rechts: Volkmar Fischer.

Die Redaktion erarbeitete ein Statut, das auch die freie Wahl eines Chefredakteurs vorsah. „Das hat selbst den Herausgeber der Nürnberger Nachrichten überrascht, zu dem wir erste Kontakte geknüpft hatten“, sagt Hausold, der wie Erzigkeit bei der ersten Wahl kandidierte und mit zwei Drittel der Stimmen gewann. Doch er blieb nur zehn Tage im Amt.

„Ich habe persönlich eingeschätzt, dass ich durch meine herausgehobene Position ein Teil des faktischen Pressemonopols der SED gewesen bin“, sagt er. Auch die Mitglieder vieler Kreisredaktionen haben stärkere personelle Änderungen beim Übergang zur Pressefreiheit gefordert. „Dies mitzugestalten, wäre wenig glaubwürdig gewesen.“ Aus Ärger über den Unabhängigkeitskurs sei er jedenfalls nicht zurückgetreten.

„Hausold war am 16. Januar 1990 mit dem klaren Auftrag der Redaktion nach Berlin gefahren, den Parteichefs zu erklären, dass sich die Volkswacht sofort vom Herausgeber SED-PDS lossagen wird, doch er ist eingeknickt“, sagt hingegen Erzigkeit. Die Redaktion habe gefürchtet, dass die Partei die Volkswacht als einzige Zeitung in Thüringen behalten wolle, und veröffentlichte am 17. Januar die Erklärung zum neuen Kurs, strich aber das Wort Chefredakteur heraus.

Hausold trat an diesem Tag zurück. Anders als kolportiert habe er noch keinen Job bei der SED-PDS in Aussicht gehabt, sondern sich innerlich eine Pause verordnet. „Die Partei ist erst später auf mich zugekommen“, sagt Hausold, der bis 2019 als Abgeordneter für die Linke im Thüringer Landtag saß.

Titelvorschläge Ostthüringer Tribüne oder Ostthüringer Post fallen durch

Die Redaktion arbeitete unterdessen weiter fieberhaft an der neuen Zeitung. Statt der Titelvorschläge Ostthüringer Tribüne oder Ostthüringer Post setzte sich Ostthüringer Nachrichten durch – in Anlehnung an die Nürnberger Nachrichten. Hausgrafiker Werner Meißner brachte das Logo mit Pinsel und Tuschfeder aufs Papier.

„Die kleine Welt unserer Leserinnen und Leser war unser Thema, sie zu beobachten, beschreiben, erklären und wenn möglich zu verbessern unser erstes Anliegen“, blickt Erzigkeit zurück. „Regionale und lokale Nähe sollten der Markenkern sein.“ Am nächsten Tag steckte die erste unabhängige Ostthüringer Tageszeitung in vielen Briefkästen von Gera oder Jena, Rudolstadt oder Lobenstein.

Doch auch wirtschaftlich muss die OTN zu neuen Ufern aufbrechen, hatte die Volkswacht doch allein 1989 sieben Millionen DDR-Mark aus der SED-Kasse erhalten. Mit der WAZ-Gruppe aus Essen fand sich ein starker Partner. Nach einem Konflikt mit der Treuhandanstalt kündigte die Redaktion zur Jahresmitte 1991 geschlossen und wechselte zur neuen Ostthüringer Zeitung.

Den Weg für die erfolgreiche Entwicklung der unabhängigen Regionalzeitung hatte die Selbstbefreiung im Januar 1990 geebnet. Am Abend des ersten OTN-Erscheinungstages nach der Rede des später langjährigen Chefredakteurs in der Johanniskirche zogen die Demonstranten wieder vor das Verlagsgebäude. „Blumen wurden an der Pforte abgegeben“, erinnert sich Erzigkeit. Auch ein großer Strauß weißer Rosen.