Frank Quilitzsch über ein Kultbuch, das nach einer Fortsetzung verlangt.

Wo ist eigentlich Jürgen Kuczynskis Band „Dialog mit meinem Urenkel“? Er steht noch an seinem alten Platz in meiner Bibliothek. Seit 36 Jahren habe ich das Buch, das seinerzeit Kult war, nicht mehr in der Hand gehabt. Jetzt nehme ich es wieder heraus und blättere darin.

„Sage mal, Urgroßvater: Hast Du Dir den Sozialismus in Deiner Jugend so vorgestellt, wie er heute ist?“, lautet die erste Frage.

Das Buch erschien 1983, nachdem das Manuskript sechs Jahre lang auf Eis gelegen hatte. Ich studierte in Jena und war glücklich, ein Exemplar ergattert zu haben. Als Bückware wurde es nur unterm Ladentisch gehandelt. Weil Kuczynski darin Fragen beantwortete, die in der DDR tabu waren. Zum Beispiel: Wie es um die Ökonomie des Staates stand. Warum jeder, der die realen Zustände kritisierte, sofort zum Feind des Sozialismus gestempelt wurde. Dass der Band überhaupt erscheinen durfte, hing mit der privilegierten Stellung des Autors zusammen. Der marxistische Kapitalismuskritiker Jürgen Kuczynski hatte als ehemaliger Emigrant einen guten Draht zu Erich Honecker.

Wie lese ich sein Buch heute? Ich bewundere ihn ob seiner offenen Worte: Unser Leben sei „nicht mehr so grausam“, aber es entspreche „noch keineswegs unserem ,organischen sozialen Idealismus‘“, schreibt Kuczynski 1977.

Er geißelt die Verbrechen der Stalin-Zeit, kritisiert die „Überzentralisierung“ in der DDR und beklagt deren hohe Verteidigungsausgaben. Trotzdem ist er fest davon überzeugt, dass sein Urenkel im Kommunismus leben würde.

Angesichts der heutigen Weltlage überlege ich, was meine Urenkelin mich einmal fragen wird: Wusstet Ihr nicht schon 1983, dass die Treibhausgase die Erde erwärmen und die Polkappen abschmelzen? Warum habt Ihr zur Jahrtausendwende, als noch die Chance bestand, den Klimawandel aufzuhalten, das Wachstum nicht gestoppt? Und warum habt Ihr, selbst als das ganze Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe sichtbar wurde, einfach so weitergemacht?

„Sage mal, Urgroßvater: Hast Du Dir die Welt nach dem Mauerfall so vorgestellt, wie sie heute ist?“