Hajo Schumacher über Nachbarn und digitale Angebote

Im Schatten der eher unsozialen großen Netzwerke wie Facebook wachsen leise, aber stetig die Nachbarschaftsportale. „Eine neue Kultur des Miteinanders“ lobt der Bochumer Soziologe Rolf G. Heinze.

Ich könnte die kostenlose Opernkarte nehmen, dazu Stehlampe und Korbsessel (beides von Ikea) und das Tigerenten-Fahrrad. Einen Waschmaschinenschlauch brauche ich gerade nicht. Außerdem stehen heute Abend Hormon-Yoga an, „Klangideen mit Buffet“ (kostet was) oder Boule im Park. Vielleicht auch die Aktivistengruppe „Baden in der Spree“ – oder sind das Lebensmüde?

Zugegeben, ich bin kein großer Mitmacher, sondern gucke lieber passiv durch die Angebote. Aber es fühlt sich gut an, was da jeden Tag auf www.nebenan.de angeboten wird, diese Vielfalt aus Engagierten und Verrückten, die ihre Arme, Wohnungen und manchmal auch Herzen für Unbekannte öffnen. Auch wenn ich mich manchmal etwas verloren fühle unter vielen Maulern – so schlecht kann meine Gegend nicht sein. Nebenan.de ist ein herrlich unspektakuläres Portal, wie das Schwarze Brett im Supermarkt, wo früher Hundesitting, Klavierunterricht und Mathe-Nachhilfe angeboten wurden. Es gibt offenbar einen Unterschied zwischen den sogenannten „sozialen Netzwerken“ wie Facebook, die Daten saugen und verkaufen, pausenlos Hysterie schüren und vor allem den eigenen Börsenkurs pflegen, und den sozialen „sozialen Netzwerken“, die zunächst einem guten Miteinander dienen. Es gibt sie halt doch, die netten Menschen. Und zwar ganz schön viele.

Spannende Frage: Führt so ein Nachbarschaftsportal am Ende vielleicht doch zu mehr Einsamkeit, weil sich die Leute hinterm Bildschirm verbarrikadieren, statt einfach mal nebenan zu klingeln?

Oder bringen solche digitalen Angebote die Menschen auf Trab und dazu, häufiger mal wieder nebenan zu klingeln? Dieser Frage hat sich Rolf G. Heinze von der Ruhr-Universität Bochum gewidmet. „Die gesellschaftliche Entwicklung ist manchmal weiter als das Wissen darüber“, sagt der Soziologe, der schon Ministerien und Kanzleramt beraten hat. Heinze hat mit seinem Team geforscht, was digitale Technik mit Nachbarschaften macht. Erste Erkenntnis: Das weltweite Web funktioniert auch auf kurze Distanzen. Per Internet wird die anonyme Stadt wieder ein bisschen mehr zum Dorf.

Ist das Misstrauen erst überwunden, werden aus Tauschringen plötzlich Tanzgruppen, aus kleinen Vorträgen erst gemeinsame Radtouren und dann große Reisen. Auf nebenan.de beispielsweise tauschen inzwischen nahezu eineinhalb Millionen Menschen ihre Wünsche und Angebote. Wie viele Beziehungen oder Freundschaften bislang gestiftet wurden – man weiß es nicht. Wie fast jede gute Idee entstand nebenan.de aus einer Notlage. Als der Internet-Unternehmer Christian Vollmann ins große Berlin gezogen war, fühlte er sich einsam. Also klingelte er bei den Nachbarn. Einhellige Meinung: Sollte man öfter machen. Irgendwas gibt’s immer auszutauschen oder zu unternehmen. Und wenn es in diesem einen Wohnhaus so war, dann vermutlich auch in vielen anderen. Mit seinem Bruder Michael zog er nebenan.de als Kombination aus Firma und Stiftung auf, um sowohl Reklame als auch Spendenbetteln zu reduzieren. Inzwischen vergibt das Start-up stolz den Deutschen Nachbarschaftspreis.

Und was sagt die Wissenschaft? Experte Heinze ist vorsichtig optimistisch: Erste Studien in 252 Kölner Vierteln ergaben, dass die Nebenan-Aktivisten eher Freunde suchten als Nachbarschaftstreffen und lieber Hilfe leisten als Gerätschaften teilen. Reiche Menschen scheinen nebenan.de nicht attraktiv zu finden, sozial Schwache wiederum trauen sich offenbar nicht. Neubürger sind aktiver als Alteingesessene, und Ältere lassen sich durchaus auf digitale Nachbarschaften ein, wenn sie „einen erfahrbaren Nutzen“ sehen, sagt Heinze. Wie nachhaltig und dauerhaft solche Beziehungen sind? Das weiß auch Heinze nicht. Aber manchmal reicht ja schon ein schöner Abend.

Nützliche Links und ein Best-of aus dem Interview mit dem Wissenschaftler Rolf G. Heinze finden Sie auf www.netzentdecker.de .