Erfurt. Lange hatte der Philosoph Oelze mit Literatur wenig am Hut. Inzwischen aber ist er Schriftsteller und stellt als solcher nun die menschliche Vernunft infrage.

Rauchen ist ungesund und also unvernünftig. Ständiger Fleischverzehr ist es auch. Überhaupt tun wir tagtäglich Dinge, die uns oder unserer Umwelt so oder so schaden, beim Autofahren, beim Einkaufen, im Umgang mit anderen Menschen.

„Wie kann es sein, dass wir das Richtige wissen und trotzdem das Falsche tun?“ So fragt an einer Stelle in Anselm Oelzes zweitem Roman eine US-amerikanische Psychologieprofessorin aus Stanford bei ihrem Gastvortrag in London. Es ist die Kernfrage dieses Buches.

Dessen Kernthese formuliert die Psychologin ebenfalls: „Es ist nicht unvernünftig oder willensschwach, wider besseres Wissen zu handeln! Im Gegenteil: Es ist zutiefst vernünftig!“ Was keine gute Nachricht bedeutet, sondern eine Kritik der reinen menschlichen Vernunft. Die sei wie Pandora: jene aus Lehm geschaffene Frau der griechischen Mythologie, die ihr eine Büchse mit allen Übeln in die Hand drückt. Bekanntlich ein vergiftetes Geschenk.

Vom ewigen Widerspruch zwischen Denken und Handeln

Anselm Oelze, „Pandora
Anselm Oelze, „Pandora", Roman, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2023, 464 Seiten, 26 Euro. © Schöffling & Co.

Anselm Oelze aus Erfurt, Jahrgang 1986 und inzwischen in Leipzig heimisch, ist Doktor der Philosophie. Mit der schöngeistigen Literatur hatte er lange nichts am Hut, weder passiv noch aktiv. Über Umwege und durch Zufälle kam er schließlich doch dazu. Vor vier Jahren erschien „Wallace“, sein viel beachteter und alles in allem oft gelobter Debütroman. Darin stolperten wir mit einem Nachtwächter im Museum buchstäblich über die vergessene, durch Charles Darwins Ruhm verdrängte Existenz des Naturforschers Alfred Russel Wallace und seine Theorie zur natürlichen Auslese. Der Roman fragte danach, wann ein Leben als gelungen gilt.

Er war erfolgreich genug, aus Oelze einen freien Schriftsteller zu machen. Der denkt, auf fast doppelt so vielen Seiten wie bei „Wallace“, nun literarisch über ein philosophisches Problem nach: den ewigen Widerspruch von Denken und Handeln.

Das springt uns keineswegs ins Gesicht, es entwickelt sich allmählich aus zunächst zusammenhanglos erscheinenden Geschichten von im Kern vier Personen und ihren Sorgen. Das plätschert so dahin, Privates, Berufliches, doch als man schon mit den Schultern zucken mag, trifft einen plötzlich eine Flutwelle. Zuvor hält uns Oelze mit der Fähigkeit bei der Stange, Kapitel mit Cliffhangern enden zu lassen.

Wir treffen auf Carline Macpherson aus Washington, unzufriedene Kulturanthropologin in Halle/S., wohnhaft aber in Leipzig, die keine Kinder will, weil die schlecht für die Welt sind und die Welt schlecht für sie. Astronom Jurij Bogić aus Serbien arbeitet am Alma-Observatorium in Chile, ist mit einer Japanerin liiert, hat sich aber „im Klischee des einsamen Forschers eingerichtet.“

Komplex gebauter Roman, aber nicht kompliziert geschrieben

Telmo Schmidt, als Sohn eines Deutschen in Lissabon geboren, ist ein katholischer Schulpfarrer und Lehrer im Schwarzwald, dem Essen „zur heiligen Angelegenheit“ wurde und Füße zum heimlichen Fetisch. Und der eher mäßig erfolgreiche deutsche Schriftsteller David Rubens, mit Carlines Freundin Martje verheiratet, einer Niederländerin, sieht seine Ehe in die Brüche gehen, seine wirtschaftliche Existenz auch.

Der komplex gebaute, doch keineswegs kompliziert geschriebene Roman setzt das Quartett in Beziehung zueinander. Er lässt die westliche Mittelstandsblase, in der alle leben, platzen und führt sie, direkt oder indirekt, in den brasilianischen Regenwald. Dort lebt, bislang vor der Welt verborgen, ein indigener Stamm, der einen westlichen Mythos füttert: „Ihm zufolge gab es tatsächlich einige wenige Menschen auf dieser Welt, die noch nicht verdorben waren . . .“ Und ein Reisebericht aus dem 16. Jahrhundert, den Oelze erfunden hat, inspiriert aber von Hans Stadens „Warhaftiger Historia“ über nackte Wilde in der Neuen Welt, macht diese zu Entdeckern einer Substanz: Die bringt Menschen demnach dazu, „dass sie nicht Dinge tun, von denen sie wissen, dass sie falsch sind.“

Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass der zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendelnde Roman uns Rettung versagt; dass er am Ende gar „gegen den Gedanken“ ankämpft, „dass dies das Ende sein sollte.“ Alle Versuche, Katastrophen zu verhindern, führen in die Katastrophe. Alle Vernunft sorgt „nicht für Rationalität, sondern vor allem für Rationalisierung.“ So lässt sich hier auch eine Massenerschießung zu Beginn der Balkankriege rechtfertigen – und die Tötung zweier Kinder zur mitfühlenden Tat ummünzen. „Es gibt keine Handlung, die sich nicht in irgendeiner Weise im Nachhinein rationalisieren oder vernünftig erklären ließe.“

So wird „Pandora“ in der Tat zum vergifteten literarischen Geschenk und mit seinen Figurenbeschreibungen und Sprachbildern, Stärken und Schwächen, zum zutiefst menschlichen Roman. Nur ist das nicht immer eine gute Nachricht.