Gotha. Büchner-Preisträger Alexander Kluge erinnert sich seiner Gothaer Kindheitstage.

Mindestens für Thüringen bedeutet es eine literarische Sensation: Der spätere Georg-Büchner-Preisträger Alexander Kluge hat 1938 als Abc-Schütze in Gotha das Schreiben gelernt. Und mehr als das: Jetzt erinnert der inzwischen 87-Jährige sich in einer kleinen Sammlung von Kurzgeschichten an diese Zeit, da er sie selbst im Rückblick als prägend empfand. Pünktlich zur Oskar-Schlemmer-Ausstellung auf Schloss Friedenstein Gotha, zu der Kluge ein künstlerisch-investigatives Multimedia-Arrangement zum Thema Bauhaus beisteuert, finden diese Erzählungen – als blaues DIN-A-5-Schulheft getarnt – sich auch gedruckt.

„Lesen und schreiben lernen / ,Buchstaben des Lebens‘“ steht da bescheiden unter dem Namen des Autors auf dem Etikett. Doch wer Kluge auch nur ein wenig kennt, fühlt sich schon beim ersten Umblättern wie elektrisiert; man liest: „Wie ich in Gotha 1938 eingeschult und von der Schwester meines Vaters charakterlich ,zurechtgerückt‘ wurde. Sechs Monate Zeitgeschichte, die mich prägten.“ Also keine Episode, die beiläufig zu betrachten wäre. Vielmehr eine Sattelzeit, um einerseits das abgründigste weltpolitische Unheil heraufdräuen zu sehen, andererseits stiftete sie den Start-Impuls für eine Ehrfurcht gebietende Künstler-Laufbahn.

Die Schlüsselfigur, um all dies zu Tage zu fördern, heißt Christoph Streckhardt. 2016 promovierte der gebürtige Sömmerdaer über das „Kaleidoskop Kluge“ in Philosophie; seitdem steht er im Kontakt mit dem Autor. Heute arbeitet Streckhardt als Vize-Direktor des Referats Kommunikation und Bildung bei der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Und als die große, nun am nächsten Wochenende zu eröffnende Oskar-Schlemmer-Ausstellung auf die Agenda kam, reifte die Idee, Alexander Kluge zu fragen, ob er nicht zu dieser Gelegenheit seiner Bauhaus-Affinität ein wenig frönen wolle. Kluge wollte. Er gestaltet einen ganzen Raum im Rahmen der Schau.

In der Reyherschule lernt er das Abc

„Und dann erzählt er mir im Januar, auf einer Taxifahrt in Berlin, wo er im Haus der Kulturen der Welt an dem Projekt ,Das Neue Alphabet‘ teilhat, dass er ja in Gotha eingeschult worden sei“, berichtet Streckhardt. Schon diese Nachricht, vor ein paar Wochen zur Präsentation des Jahresprogramms auf Friedenstein verkündet, schlägt in Gotha ein wie der Blitz. Tatsächlich hat der spätere Jurist, Autorenfilmer und Schriftsteller, einer der Granden der deutschen Nachkriegsliteratur, in der thüringischen Kleinstadt das Lesen und Schreiben erlernt. Das Alphabet vorwärts und rückwärts. Und zwar in deutscher Kanzleischrift – Sütterlin.

„Kluge, Axel“: Eintrag im Knabenbuch der Reyherschule anno 1938. Foto: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha
„Kluge, Axel“: Eintrag im Knabenbuch der Reyherschule anno 1938. Foto: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha © zgt

Die biografischen Umstände, wie der kleine Alexander – Rufname Axel – aus Halberstadt für ein halbes Jahr „im Eiltransport“ aufs Abstellgleis nach Gotha verschoben wurde, erzählt er nun, 81 Jahre danach, selbst in den „Buchstaben des Lebens“. Nichts weniger als der „Aufbau der neuen Volksgemeinschaft“ und die aus Sicht der NS-Machthaber dazu unabdingbare „Zerstörung der alten bürgerlich-ständischen Gesellschaft“ trug Schuld daran. Reihum „säuberten“ die Nazis ganze Berufsstände von unerwünschten Elementen, erst den Klerus, dann die Justiz, schließlich die Ärzteschaft. Kluges Vater war Arzt und stand flugs, wie so manch anderer ländliche oder Kleinstadt-Kollege, im Verdacht, sich mit fachmännischen, indes illegalen Abtreibungen ein Zubrot zu verdienen.

So drang das „Schwappwasser der Zeitgeschichte“ Anfang 1938 in die matriarchalisch dominierte „Familienrepublik Kluge“ ein – in Gestalt der Kriminalpolizei zwecks Überstellung des Hausherrn in U-Haft. Den anderen, eher erfreulichen Teil der Lage verschweigt der 87-Jährige in seinem verspäteten, marineblauen Schulheft; mündlich ergänzt Christoph Streckhardt, dass Kluges Mutter dieser Tage hochschwanger war. Also: „Zum Bahnhof. Über Aschersleben, Halle nach Gotha zur Schwester meines Vaters. (...) Ankunft Kunstmühlenweg 14, gleich am Hauptbahnhof Gotha.“

Axel durfte mit der Modelleisenbahn seines Onkels Heinz, eines Reichsbahn-Oberrats, spielen. Foto: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha
Axel durfte mit der Modelleisenbahn seines Onkels Heinz, eines Reichsbahn-Oberrats, spielen. Foto: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha © zgt

Um zu verstehen, was da literarisch vor sich geht, nützt es, sich im Klugeschen Kosmos ein wenig auszukennen. Dieser so enorm vielseitig gebildete und philosophisch durchdrungene Erzählvirtuose, der dank Adorno auf dem Fundament der Frankfurter Schule steht, bedient sich gleichermaßen der gedruckten wie filmischen Medien. Er volontierte bei der Regie-Ikone Fritz Lang, zählt zu den Gründervätern des Neuen Deutschen Films und hob zusammen mit Edgar Reitz („Heimat“) das Institut für Filmgestaltung an der Bauhaus-nahen Hochschule in Ulm aus der Taufe. Ab Mitte der 1980er-Jahre etablierte der promovierte Jurist im Spätabendprogramm privater TV-Sender gegen deren Willen seine Magazine als poetische Inseln (dctp).

Dieser geniale und rastlose, inzwischen mit höchsten Preisen überhäufte Schriftsteller, Autorenfilmer, Produzent und Medienmogul bedient sich zumeist assoziativer Montage-Techniken. Er erzählt knapp und lakonisch in einem fingierten Dokumentarismus, sodass (erfunden) Poetisches in unsere Alltagswelt eindringt, sodass eine assoziativ mäandernde Bewegung eine Multiperspektivik erzeugt und ein letztlich unergründlicher Wahrheitskern erspürbar, ahnbar wird. Geschichte betrachtet er nicht als Abfolge von Jahreszahlen, sondern vielmehr als eine variable Summe individueller Erfahrungen.

So auch in den „Buchstaben des Lebens“. Der Sechsjährige registriert, ohne schon zu verstehen. Er sitzt auf seinem Ausguck, einem Ast im Garten der Tante Marta, und beobachtet, wie auf dem nahen Bahnhof Truppen verladen werden. Wenn die Erwachsenen gebannt vorm „Volksempfänger“ lauschen, darf er nicht klappern, nicht lärmen. Der „politische Ernstfall“ tritt ein, der „Anschluss“ Österreichs, die Sudetenkrise.

Gerüche im Reformhaus zogen ihn in ihren Bann

Zu Ostern die Einschulung. Streckhardt hat längst den Eintrag „Axel Kluge“ im Knabenbuch der Gothaer Reyherschule ausfindig gemacht. Die frühjahrskalte, vom Lehrer angehauchte Fensterscheibe, auf die dieser dann den Buchstaben „h“ malte, findet sich naturgemäß nicht mehr. Schrift hat etwas Gesetztes. Sie kann überdauern. Sinnlichkeit in der Wahrnehmung – zumal der eines Knaben – beschreibt sie stets unzureichend. Streckhardt erzählt, dass Kluge sich etwa an die abenteuerlich fremden Gerüche im Reformhaus erinnere, ohne sie nachträglich einer Quelle zuordnen zu können. Davon lesen wir nichts.

Stattdessen erfahren wir in kurzen „Biopics“ von der strengen, berechnenden, knauserigen Tante Marta und ihrem Gatten, dem Reichsbahn-Oberrat Knoch. Auch darin kondensiert Zeitgeschichte. Alte Fotos zeigen uns Geleise in Griechenland, für die Onkel Heinz später, in Zeiten des Krieges, zuständig war, oder dessen Modelleisenbahn mitsamt dem ins Spiel versunkenen Knirps.

In dessen aber- und abermals erneuerte, alte Haut schlüpft der Nestor Kluge sogar wieder, um Übungen in Sütterlin abzuliefern. „Solches Schreibenlernen in Gotha hat mich geprägt“, bekennt er. Gern erführe man mehr über Sinnlichkeit und über Zeitgeschichte, vor allem jedoch über die geheimnisvolle Macht des Alphabets und seine existenzielle Bedeutung. Kluges spätes, neues, 30-seitiges Schulheft wurde in der Auflage 100 gedruckt und trägt eine Standard-Buchnummer. Offiziell gilt es als Ausstellungsobjekt.

Keine Frage, vorerst besitzt es den Status eines Fragments, einer Keimzelle für Größeres, Grundsätzlicheres. „Ich bin sicher“, sagt Christoph Streckhardt, „dass diese Texte irgendwann im ,Kosmos Kluge‘ wieder auftauchen.“ Das wäre wunderbar – nicht nur für Gotha.

Bücher, Filme, Preise (eine Auswahl)

  • Bücher: Die Universitäts-Selbstverwaltung (Dissertation, 1958), Lebensläufe (1962), Schlachtbeschreibung (1964), Öffentlichkeit und Erfahrung (mit Oskar Negt, 1972), Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1975), Die Macht der Gefühle (1984), Chronik der Gefühle (2000), Die Lücke, die der Teufel lässt (2003), Geschichten vom Kino (2007), Das Labyrinth der zärtlichen Kraft (2009), Dezember (mit Gerhard Richter, 2010), Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe (2012), Kongs große Stunde (2015)
  • Filme: Brutalität in Stein (mit P. Schamoni, 1961), Abschied von gestern (1966), Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968), In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (mit E. Reitz, 1974), Deutschland im Herbst (mit E. Reitz, R. W. Fassbinder u. a., 1978), Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985)
  • Preise: Goldener Löwe, Venedig (1968), div. Filmbänder und Grimme-Preise, Kleist-Preis (1985), Büchner-Preis (2003), Adorno-Preis (2009), Ehrenbürger Halberstadt (2017)