Gera. Lutz Seiler erzählt die Odyssee von Inge und Walter Bischoff von Gera nach Los Angeles.

Auch wenn Ed nun Carl heißt, nicht Hiddensee, sondern Gera, Berlin und der Westen Schauplätze der Geschichte sind – Lutz Seiler schreibt in „Stern 111“ seinen Bestseller „Kruso“ fort. Wieder findet ein Verlorener Aufnahme in einer Gemeinschaft, die ein utopisches Konzept lebt. Wieder begleitet der Roman Menschen beim Aufbruch in die Freiheit.

In „Stern 111“ sind es die zupackende Inge, 49, und der Perfektionist Walter, 50, die in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 beschließen, Wohnung, Werkstattgarage und Shiguli in Gera-Langenberg zurückzulassen, um es „ab Gießen getrennt zu versuchen“.

Alle Papiere sind vorbereitet, alles, was sie ein Leben lang zusammen getragen haben, soll ihrem einzigen Kind gehören: Carl Bischoff, geboren 1963 in Gera/Thüringen, Student. Student stimmt nicht, ahnen die Eltern. Doch „die Trennung von H. und warum er nicht mehr zum Studium gegangen war und weshalb er sich verkrochen hatte vor der Welt“, bleibt am letzten gemeinsamen Abend ebenso ungesagt wie der Grund für die abrupte Flucht der Eltern.

Carl hält drei Wochen aus, dann packt er die Koffer

Die Aufgabe, in Langenberg die Stellung zu halten, überwältigt Carl. Er verkriecht sich in der Wohnung, ernährt sich vom Eingeweckten, trinkt zu viel Obstwein, schreibt keine einzige brauchbare Zeile, während er sich erinnert, wie er aufwuchs in dem Land, das sich gerade auflöst.

Carl hält drei Wochen aus, dann packt er den Kofferraum voll Brauchbares und fährt nach Berlin, wo er in der Linienstraße im eiskalten Shiguli campiert. Diese Straße zwischen Oranienburger und Volksbühne war lange vor 1989 Inbegriff der Trostlosigkeit. Hier steht das Haus, in dem Franz Biberkopf nach seiner Tegeler Haft wohnte. Ernst Kossak, Vater des Berliner Feuilletons, schrieb einst, sollte ein Dichter hier längere Zeit wohnen, „wird man einmal im Localbericht lesen: Gestern erhängte sich ein junger Mann in der Linienstraße...“ Fast erfriert Carl, doch dann retten ihn Ziegenmilch und die Aufnahme durch ein kluges „Rudel“ von Hausbesetzern. In der verwahrlosten, verlassenen Mitte Berlins beginnt im Dezember 1989 das kurze Jahr der Anarchie.

„Stern 111“ erzählt, wie es geht, das Leben ohne Vermieter, ohne Eigentum, wenn man sich nimmt, was man braucht, aber eben auch nicht mehr. Carl nistet sich in einer kleinen Wohnung ein, schreibt, träumt vom ersten Gedichtband, begegnet seiner großen Liebe Effi, verdient das Nötigste als Kellner und Maurer.

Die Geschichte vom alternativen, nachhaltigen, ressourcenschonenden Leben in einer Gemeinschaft Freier und Gleicher bleibt seltsam unberührt von den Zeitläufen. Das implodierende Land rundum, das Ende vom Kalten Krieg, der Zerfall des Ostblocks, die Neuordnung von Macht und Deutungshoheit berühren die Welt des Rudels kaum. Zu hundert Prozent präsent dagegen ist diese extreme Umbruchzeit in der Fluchtgeschichte der Eltern, die Carl und den Leser schließlich mit den ersten Briefen der Mutter erreicht.

Inge berichtet vom Leben aus dem Rucksack, von bürokratischer Flüchtlingsverwaltung und auch vom ungebrochenen Optimismus der Eltern. „Stockfremd“ fühlt sie sich in der Fremde. Nur kurze Zeit findet sie sich als Haushaltshilfe bei der syrischen Arztfamilie Talib lieb aufgenommen.

Die Elterngeschichte ist die stärkere und spannendere

Wechselt der Erzählstrang von Carl zu den Eltern wird der Ton sachlicher, pragmatischer, so pragmatisch wie diese Inge Bischoff eben Regencape und Wanderschuhe als Fluchtausrüstung wählt. Sie wird sie erst kurz vor Los Angeles ablegen.

Die Eltern-Geschichte ist die stärkere, spannendere; sie entfaltet einen magischen Sog, was ein Autor von der Klasse Lutz Seilers wohl kalkuliert. So offenbart der Roman erst gegen Ende, warum Walter sein geliebtes Werkzeug in Gera zurücklässt und ausgerechnet ein klobiges Akkordeon mitnimmt, auf dem Carl ihn nie spielen hörte. Auch um zu erfahren, was der Titel gebende Stern 111 ist, muss man lange lesen, es sei denn, man besaß einen.

„Stern 111“ erzählt von der in Gera-Langenberg beheimateten Familie Bischoff, die viele biografische Details mit der in Gera-Langenberg beheimateten Familie Seiler teilt, und ist eine Liebeserklärung an zwei kraftvolle, unerschrockene, in sich ruhende Menschen. Sie sind erfüllt von einer schon der nächsten Generation abhanden gekommenen Lebenszuversicht. Und ganz aktuell verteidigt der Roman das Recht einer jeden, eines jeden, für einen Lebenstraum die Heimat zu verlassen.

Lutz Seiler: Stern 111. Roman, Suhrkamp, 528 Seiten, 24 Euro