Gera/Meiningen. Die Thüringer Theatermärchen „Rumpelstilzchen“ und „Aschenbrödel“ treffen sich in der MDR-Mediathek. Ein Blick auf einen Drahtseilakt in Gera und Meiningen.

Kurz vor Ende tut sich jeweils die Erde auf. In Gera verschwindet Rumpelstilzchen in der Versenkung, aus der Rauch und Feuer aufsteigen. In Meiningen geht die Stiefmutter unfreiwillig eisbaden sowie alsbald unter, nachdem sie Töchterchen Dora mit sich zog.

Dahinter steckt gewiss nicht der Hinweis, Schauspieler wollten am liebsten im Bühnenboden versinken, da sie nun vor Internetzuschauern auftreten. Eher schon taugte das als Sinnbild jener Furcht, das Theater könnte nach monatelanger Pandemie-Zwangspause in der Versenkung verschwinden, also aus dem Gedächtnis des Publikums. Doch scheint die Furcht unbegründet. Zumal zwei Thüringer Theatermärchen nicht durchs weltweite Netz rutschen, sondern darin aufgefangen werden, nachdem selbst solche hygieneregelkonforme Inszenierungen sonst vergeblich auf Zuschauer warteten, die nun den Weg ins Digitale vorübergehend verfolgen.

Der MDR hat die Aufführungen, auch dank einer Intervention der Erfurter Staatskanzlei, aufgezeichnet und in seine Mediathek gestellt (wir berichteten). Das feiert zum Glück niemand als große Innovation. Im Gegenteil. Kay Kuntze zum Beispiel, Intendant in Altenburg-Gera, ist einem Begleittext zufolge "kein Fan des Streamings". Theater lebe von der Energie des Publikums. Schauspieler bestätigen das. Und wir auch. Theater im Fernsehen (oder eben Internet) war stets ein Drahtseilakt. Dort, wo er gelang, waren Zuschauer während der Aufzeichnung anwesend. Hier nun zeigt uns die Totale leere Säle in Gera und Meiningen. Dafür sind die Bühnen voll, üppiger Ausstattungen wegen.

Das sind letzten Endes, wie unsere Zeitung aus anderen Gründen gerade auch, Notausgaben. Man macht halt irgendwie das Beste aus der Situation.

"Rumpelstilzchen" in Gera als Komödie versucht

Wobei das Beste nicht immer gut genug ist. Geras "Rumpelstilzchen" bedeutet eine sechzigminütige Albernheit. Schauspielchef Manuel Kressin hat das Grimm-Märchen für die Bühne sowie vier Schauspieler bearbeitet und eine Komödie daraus zu machen versucht. Sie ist so offensichtlich auf Witz angelegt, dass einem das Lachen vergeht. Darin führt sich ein gold- und eifersüchtiger König (Manuel Struffolino) auf, als sei er höchstselbst das Rumpelstilzchen, während dieses in Johannes Emmrichs Darstellung rothaarig, rotbärtig und mit langen schwarzen Fingernägeln wie der Storch durch den Salat stakst. In einem der hübschen Lieder, die Schauspielkapellmeister Olav Kröger komponierte, singt der König in der Badewanne voller Münzen: "Wenn man einen Goldschatz hat, gönnt man sich manchmal ein Goldschatz-Bad."

Dass dieser Geck und die Müllertochter alias "Die schöne Anmut" (Marie-Luis Kießling) sich alsbald innig lieben werden, wie Manuel Kressins ansonsten übrigens sehr angemessene Erzählerstimme behauptet, kann uns wirklich niemand erzählen.

Der Tiefpunkt ist indes ein grenzdebiler Hofjäger, den Robert Herrmanns als Parodie einer Parodie anlegt, die eigentlich eine Comedy-Kopie ist: die des Kölschen Voll-normaaal-Proleten Tom "Tommy" Gerhardt. Die Schauspieler halten ironischen Abstand zu ihren Figuren. Sie nehmen sie nicht ernst, weshalb es auch nicht lustig wird. So ereilt die Geraer, was man eher den Meiningern prophezeit hätte: ein Untergang.

Keckes Aschenbrödel lässt in Meiningen den Liebreiz strahlen

Gabriela Gillert hat "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" nach dem berühmten Märchenfilm von 1973 inszeniert, inklusive der Musik Karel Svobodas, die die Hofkapelle Meiningen neu einspielte, und inklusive der Logikfehler des Films, die ihn nicht weniger liebenswerter machen. Der Weg führte hier also vom Kino übers Fernsehen auf die Bühne, die dann doch wieder auf dem Bildschirm endet. Doch aller Vorhersehbarkeit zum Trotz, die ein solches, ganz dicht an der Vorlage entlang schlitterndes Unterfangen zeitigen muss, gelingt den Meiningern auf ihrer Winterwald-Drehbühne das Kunststück, keine Kopie abzuliefern, sondern eine achtzigminütige Variante.

Das liegt unter anderem an Carla Witte, deren keckes Aschenbrödel den Wildfang funkeln und den Liebreiz strahlen lässt, an Christine Zarts dominanter Stiefmutter und an Matthias Herolds trippelndem König mit Doppelkegelfigur. Statisten der hauseigenen Ballettschule ahmen zudem Gangarten des Pferdes Nikolaus präzise nach.

Und doch sähen wir das alles lieber aus unmittelbarer Nähe. Denn vor der Kamera kann ein Theater seine Arbeit letztlich allenfalls dokumentieren. Wirken im eigentlichen Sinn kann es dort nicht.

Zu sehen in der MDR-Mediathek: "Aschenbrödel" bis 17. März 2021, "Rumpelstilzchen" bis 18. Dezember 2021.