Erfurt. „Rave like God“: Dort, wo seit Jahrhunderten Bach auf der Orgel erklingt, wird heute Techno das Kirchenschiff der Predigerkirche in Erfurt erfüllen.

Wie ein Bollwerk steht sie da. Übermenschengroß. Jahrhunderte alt. Eine der letzten Bastionen der Alten Welt, der Tradition und des Glaubens. Für viele ist die Predigerkirche im Stadtzentrum von Erfurt ein unnahbares Monument, ein Schmuckstück, in dessen Schatten sie Kaffee trinken. Dekoration.

Gerade für junge Menschen stehen Kirchenhäuser symbolisch für eine Welt, die nichts mit ihnen zu tun hat. Zu Heerscharen treten sie deutschlandweit aus dieser Institution aus, die scheinbar an ihrer Lebenswelt vorbeigeht.

Die Hürde, mit der Kirche in Interaktion zu treten, scheint oftmals ähnlich hoch wie die Ausmaße eines der gen Himmel strebenden Türme, die viele der Gotteshäuser schmücken. Ein Unding. Und genau da will Anne Heisig ansetzen. Die 31-jährige Vikarin aus Erfurt hat sich den Plan in den Kopf gesetzt, junge Leute zu erreichen.

Sie will die sprichwörtliche Hemmschwelle senken, die es jungen Menschen schwer macht, mit der lokalen Predigergemeinde und generell der gelebten Religion in Austausch zu treten. Sie möchte das christlichen Monument in der Erfurter Innenstadt niedrigschwellig mit mehr Leben füllen. Um dieses schier unmöglich erscheinende Ziel in die Realität umzusetzen, geht sie einen Weg, den vor ihr in Erfurt und Thüringen noch niemand gegangen ist. Anne organisiert einen Rave in dem Gotteshaus unweit des Fischmarkts.

„Rave like God“ in der evangelischen Predigergemeinde

Dort, wo seit Jahrhunderten Bach auf der Orgel erklingt, wird am 15. April Techno das Kirchenschiff erfüllen. Unter dem Titel „Rave like God“ bittet die evangelische Predigergemeinde von 16 bis 22 Uhr zum Tanz. Die elektronischen Bässe sollen dann den Staub von Äonen aufwirbeln und Menschen auf eine Art erreichen, wie sie an diesem Ort außergewöhnlicher nicht scheinen kann.

Die Idee zur Veranstaltung, die gefühlt unvereinbare Welten zusammenbringt, trug Anne, die Pfarrerin in Ausbildung, bereits seit langer Zeit schwanger. Doch um zu verstehen, wie der Plan im Geist der gebürtigen Weimarerin Wurzel trieb, ist ein Blick auf ihre Vita sinnvoll.

„Ich bin in einer christlichen Familie aufgewachsen. Theologie interessierte mich deshalb schon immer“, erinnert sich Anne im t.akt-Interview. „Hinzu kommt meine Leidenschaft zur Kunst und Musik. Und als Pfarrerin kann ich diese Leidenschaft wunderbar in Einklang mit meinem Beruf bringen.“

Doch wer jetzt denkt, Anne ist in ihrer Freizeit ein Techno-DJ, der sattelt auf das falsche Pferd. Denn die junge Vikarin frönt dem Singer-Songwriter-Metier und liefert romantischen Folk-Pop ab, der sogar auf Spotify zu hören ist.

„Es gibt im Christentum unumstößliche Dinge“

„Ich habe die Musik für mich schon früh als ein Mittel entdeckt, das mich weit weg brachte. Weg aus dem Alltag, aus eingefahrenen Denk- und Fühlmustern, weg aus der Provinz – geografischer oder geistiger Art“, erklärt Anne und fügt an: „Auf meinen Reisen durch die Welt habe ich nie eine Chance ausgelassen, mit lokalen Musikern und Musikerinnen meine Musik zu teilen und neue Inspirationen zu gewinnen.“

Diese musikalische Aufgeschlossenheit und der Aspekt, dass die Wahlerfurterin in der evangelischen Kirche viele Themen in Eigenverantwortung erschließen kann, führte sie letztendlich zu dem Punkt, die Arbeit mit der Gemeinde und der Stadtgesellschaft anders anzugehen.

Anne Heisig, Vikarin aus Erfurt, veranstaltet einen Rave in der Predigerkirche
Anne Heisig, Vikarin aus Erfurt, veranstaltet einen Rave in der Predigerkirche © Florian Dobenecker | Florian Dobenecker

„Es gibt im Christentum natürlich unumstößliche Dinge. Die Lebenslehre und ganz plakativ die zehn Gebote sind Fixpunkte, an denen ich nicht zu rütteln vermag. Aber natürlich fällt es mir auch nicht allzu schwer, niemanden zu töten oder zu betrügen“, scherzt die 31-Jährige, die besonders in der Arbeit mit dem Menschen aufblüht.

„Als Pfarrerin bin ich letztendlich ein Mensch, der für den Menschen da ist. Das reicht von den Themen Seelsorge und zwischenmenschlicher Fürsorge über Bildung bis hin zu Kultur. Ich kann meine Kreativität einbringen“, sagt Anne, die sich getreu diesem Motto das Feld ihrer Arbeit in der Gemeinde selbst erschließt.

Experimentelle Ideen sind willkommen

Im Studium merkte die Vikarin, wie vielfältig die Deutungsmöglichkeiten in der Theologie sind. Zudem gehe gerade in der evangelischen Religionslehre die Tendenz in Richtung Öffnung. Neue Räume erproben und neue Gedankenwege beschreiten sei nichts Ungewöhnliches – besonders in der Pfarrerinnenausbildung, die Anne den perfekten Nährboden für ihr Projekt liefert.

Denn eine Prüfungsleistung in ihrem Vikariat ist das Umsetzen eines Projektes mit und für die Gemeinde. Experimentelle Ideen sind dabei willkommen. Eine Steilvorlage: „Ich wollte mich etwas trauen. Etwas umsetzen, was ich immer mal machen wollte. Wobei ich Kontraste aufbrechen kann. Scheinbare Widersprüche auflöse.“

Anne sagt im Interview, dass sie es oft erlebt, dass die Kirche als kalter und körperfeindlicher Raum wahrgenommen wird. Diesen Eindruck will sie aufbrechen – mit einer körperfreundlichen Tanzveranstaltung ein anderes Schlaglicht auf die Institution werfen.

„Mir ist es wichtig, Kirche und Gesellschaft näher zusammenzubringen. Ich glaube, Kirche wird ganz oft als ein verschlossener, mysteriöser Ort wahrgenommen. Deshalb möchte ich, dass Menschen diesen Raum mit Leben füllen. Sich willkommen fühlen, weil sie dort etwas machen dürfen, was ihnen Spaß macht. Das ist oft nicht der Fall, ganz einfach, weil Kirchenmusik nicht jedermanns Sache ist und Predigten auch nicht unbedingt.

Die Menschen sollen eine gute Zeit in der Kirche haben. Sie sollen diesen Ort mit einer guten Erinnerung in Verbindung bringen“, sagt Anne, deren Weg zur Verwirklichung ihres Gemeindeprojekts kein leichter war. Sie musste ein Konzept schreiben, dass sie vor dem Gemeindekirchenrat der Predigergemeinde vorstellen und verteidigen musste. Wo kommt das Geld her? Welcher tiefere Sinn steckt dahinter? Warum gerade Techno?

Bewusstsein auf die Menschen lenken

Kritik wurde laut, da die Kirche eigentlich ein Ort der Besinnung sei, dass mit einem Rave keine Werte vermittelt würden. „Allein das Wort Techno-Rave zu benutzen, war herausfordernd, da Menschen oft ein enges Bild von dieser Art Veranstaltung besitzen.“ Gut für Anne, dass schon vorher einige Menschen im Gemeindekirchenrat offen waren und von der Idee begeistert, weil sie wissen, dass Kirche Neues ausprobieren muss.

Den Großteil der übrigen Mitglieder überzeugte die Vikarin durch einen karitativen Gedanken, den sie in das Rave-Konzept integrierte: „Jede:r Besucher:in ist aufgefordert, am Eingang zur Kirche eine Lebensmittelspende für die Tafel abzugeben. Zum einen wird so das Bewusstsein auf die Menschen gelenkt, die sich einen Rave nicht so einfach leisten können. Und zum anderen sammeln wir für einen guten Zweck.“

Ende 2022 warf die Vikarin den Rave-Motor an. Bis dato gab es Begehungen mit der Gemeinde, mit Bausachverständigen und auch mit dem Team des Clubs und Kulturortes „Kalif Storch“, welches reichlich Expertise im Veranstalten von Raves mitbringt. Auf der Agenda steht ein Innenraumkonzept für Licht, Bar und Klang. Es braucht einen „Altar“ für den DJ. Der Plan, die Kirchenbänke herauszuschrauben, um sie als Absperrung für die Grabplatten zu nutzen, entstand. Die Fragen: Wo kommt die Garderobe hin, wo der Backstage-Raum für die Künstler:innen und wo der Toilettenwagen?, mussten geklärt werden.

Das alles kostete natürlich Geld, weshalb Anne Förderanträge schrieb und mit ihrer Projektgruppe eine Kleidertauschparty auf die Beine stellte. Ihr Glück: Die Predigergemeinde beweist ihre Weltoffenheit nicht zuletzt, indem sie das Vorhaben mit 1500 Euro unterstützt. Auch der Kirchenkreis steuerte 1000 Euro bei.

Menschen sollen positive Erfahrung machen

„Ein Traum wird wahr. Die verrückteste Idee, die ich haben konnte...“, bekundet die junge Vikarin und fügt an: „Natürlich würde ich mir wünschen, dass alle gleich zum nächsten Gottesdienst am Sonntag dableiben. Doch ich weiß, das wird nicht passieren. Das erwarte ich auch nicht. Aber was ich hoffe, ist, dass Menschen diese positive Erfahrung machen.

Dass vielleicht ihr vorgefertigtes Bild von Kirche vielfältiger und bunter wird. Wir hören so viele schlechte Sachen: Missbrauchsskandal und so weiter. Solche schlimmen Dinge gibt es, aber das ist nicht alles. Es ist wichtig, Kirche so zu gestalten, wie man es gut findet. Das heißt nicht, dass nur noch solche Raves stattfinden sollen. Aber ich hoffe, die Leute bekommen ein breiteres Bild von dem, was in der Kirche stattfinden kann und auch was die Gemeinde möglich macht.“

Anne wird ihr Projekt umsetzen und die Technojünger und -jüngerinnen können im Rahmen des Gemeindeprojekts raven wie Gott. Und wie sich zeigt, nicht einfach nur aus profanen Gründen. Es geht für die Vikarin um mehr als nur eine Party in einer Kirche.

Sie will in Zusammenarbeit mit ihrer Gemeinde sowie verschiedenen Akteur:innen der Kulturszene Erfurts ein Gotteshaus mit positiven Gefühlen erfüllen, Religion anders erfahrbar machen und letztendlich Bollwerke in den Köpfen einreißen.

  • Rave like God: 15. April
  • 16 bis 22 Uhr
  • Predigerkirche Erfurt
  • Predigerstraße 4
  • Aftershow: 23 Uhr
  • Kalif Storch
  • Güterbahnhof 20
  • Insta: @ravelikegod_ef
  • @kalifstrch

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