Erfurt. Die Studiobühne ist zum großen Spielplatz geworden: zur „Studio-Box“ mit Baukastensystem. Hier findet Musiktheater jetzt ganz anders statt.

Wir betreten diesen Raum im Raum mit dem Hinweis, auf unsere Schuhe zu achten. Der Boden ist mit Malervlies und Folie bedeckt, drei Frauen aus dem Malsaal streichen die Wände: Streifen in Rot- und Orangetönen. Warme Sonnenuntergangsfarben.

Ausstatterin Mila van Daag hält ein Raummodell in ihrer Hand. Es sieht Platz für Zuschauer auf zwei gegenüberliegenden Seiten vor sowie mittendrin und drum herum lauter Birken. Sie sollen, das hat sich van Daags Kollege Hank Irwin Kittel ausgedacht, den Central Park in New York sowie waldige Gegend in Ohio markieren: im Musical „The last five years“ ab 22. November. Sie spielen aber schon ab dieser Woche auch diese und jene andere Rolle.

Dieser Raum ist eine Box. Das wird spätestens klar, wenn man gleichsam aus der Vogelperspektive auf das Modell schaut. Entstanden ist sie aus alten Kulissenteilen des Theaters. Vor wenigen Tagen sah sie noch einigermaßen anders aus: eher grau, verwunschen industriell, auch mit Plexiglaswänden aus der abgespielten Oper „Dead Man Walking“. LED-Leisten, die dort vorkamen, werden ab Januar Verwendung finden, wenn aus dem Sonnenuntergangs- ein futuristischer Goldraum geworden sein wird. Den gibt die Bühne zur Kafka-Oper „In der Strafkolonie“ von Philip Glass vor, während zuletzt die Kinderoper „Die große Wörterfabrik“ das Setting bestimmte.

Klassisches Ergänzungsprogramm, nur experimenteller

Vier kleine Spielzeiten in einer großen stemmen Mila van Daag sowie Regisseur Markus Weckesser und Dramaturgin Larissa Wieczorek. Das haben sie sich selbst eingebrockt. „Dieser Raum hat uns schon immer fasziniert“, sagt van Daag. Sie meint die in der öffentlichen Wahrnehmung bislang eher unterbelichtete Studiobühne unterm Dach des Theaters Erfurt. Bis zum Sommer herrschten hier „klassische“ Verhältnisse: eine hohe, unverrückbar scheinende Zuschauertribüne, davor eine fünf Meter tiefe, aber dreizehn Meter breite Spielfläche. „Dabei ist der Raum eigentlich eine große Blackbox“, so van Daag. „Er gibt nichts vor.“

Ihn immer wieder umzubauen und neu einzurichten, ist aber aufwendig. Viele Technikdienste gehen dabei drauf. Vor fünf Jahren wagten es Markus Weckesser und Mila van Daag dennoch: Für das Maria-Callas- Stück „Meisterklasse“ flog die Tribüne raus, eine Art Zoolandschaft entstand. Seitdem reifte in den Köpfen des Regisseurs und der Ausstatterin die Idee einer flexiblen Einheitsbühne, in der drei Monate lang festivalartig unterschiedlichste Veranstaltungen stattfänden. „Das können Sie auch eine ganze Spielzeit lang machen“, hieß es vor einem Jahr in der Intendanz. „Nennen Sie uns doch mal zehn Dinge, die Sie dort veranstalten würden!“ Spätestens an dieser Stelle kam Larissa Wieczorek ins Spiel. Aus der Dramaturgin wurde zusätzlich eine Produktionsleiterin. Binnen kürzester Zeit plante das Trio ein Programm für ihre „Studio.Box“. Sie ist ihnen ein großer Spielplatz auf dreizehn mal dreizehn Metern und funktioniert nach dem Baukastensystem: Wände rein, Wände raus, Stühle hier oder dort. „Man sitzt hier mittendrin und ganz nah dran“, so Larissa Wieczorek. Die Box verändert sich nicht nur von einer zur nächsten der vier Minispielzeiten, in denen um ein zentrales Stück herum verschiedene Veranstaltungsreihen gruppiert werden, sondern auch für jedes einzelne dieser Formate: Konzerte, Performances, Tanzbars, Künstler-Talks. „Ich bin selbst erstaunt, wie vielgestaltig die Box sein kann“, sagt van Daag. „Wir kommen immer noch auf neue Varianten.“

Dahinter kann man jetzt eigentlich nicht mehr zurück

Im Grunde biete man „ein klassisches Stadttheater-Ergänzungsprogramm“, so Weckesser, nur experimenteller. Man arbeite „betriebsuntypisch“ fürs Musiktheater mit seinen langen Planungsvorläufen. Hier entwickeln sich, wie sonst nur im Schauspiel, Abende erst in den Proben. Die neuen Reihen gelten insbesondere Leuten, die Lust haben, im Theater mal was ganz Neues zu erleben. Oder die noch nie im Theater waren, geschweige denn etwas von der Studiobühne wissen. Die Dramaturgin spricht von einem Forum für Kultur und Kunst. Eine Konzertperformance mit „Lilabungalow“ wird es geben, einen Abend auch mit Studenten des Experimentellen Radios aus Weimar und dem Studentenchor Jena. Plötzlich werden viele aufmerksam. „Das hat etwas ausgelöst“, sagt Wieczorek über die Box. „Da war dieser tolle Raum, wurde aber zu wenig genutzt.“ Was bislang noch wenig genutzt würde, ist die „Flatrate“: eine Karte für alle Veranstaltungen einer Minispielzeit. All you can see, sozusagen: für 39, ermäßigt 29 Euro.

Sechzehn Jahre nach Eröffnung des Theaterneubaus findet dessen Studio endlich seine Bestimmung: als flexibler Raum für die immer wieder andere Form. Dahinter kann man eigentlich nicht mehr zurück. Was nach dieser Saison ist, wird man sehen. „Ob die Box dann stehen bleibt oder nicht, ist egal“, meint Mila van Daag. „Den Kerngedanken haben alle verstanden: das Bedürfnis nach einem Ort, der eine Identität hat. Dafür braucht es nicht unbedingt diese Hülle.“

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