Die ungarische Regisseurin Eva Stocker befragte Überlebende des Holocaust und suchte gleichzeitig nach ihren unbekannten Wurzeln.

Die Kamera fliegt über die Landkarte, zoomt einen Ort heran: Košice. Heute slowakisch, bis 1945 eine ungarische Grenzstadt. Über den Bahnhof der Stadt wurden während des Holocaust mehr als 430.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert. Hier übernahmen die Deutschen die Züge. Hier wurden die Waggons verriegelt. Hier war der letzte Halt vor der Rampe von Auschwitz.

So beginnt Eva Stockers Film. Seit mehrere Jahren arbeitet die ungarische Regisseurin, die heute in der Schweiz lebt, an ihm. Sie hat Überlebende der Schoah in acht Ländern interviewt, hat sich tief in Archive gegraben, war in Yad Vashem im Holocaust Center in Washington, in der Gedenkstätte von Auschwitz … Mehr als 300 Stunden Rohmaterial entstanden, der Film wird im Januar fertig sein. In dieser Woche war sie am Erfurter Erinnerungsort „Topf & Söhne“ Gesprächsgast der Jüdisch-Israelischen Kulturtage. Zum ersten Mal sprach sie öffentlich über diese Arbeit, die sie ihren „Lebensfilm“ nennt, und zum ersten Mal sah ein Publikum Ausschnitte.

Panische Angst vor Zügen

Ein Film über das Leben nach dem Überleben. Und ein Film auch, der sie auf die Suche nach dem eigenen, verlorenen Ich führte.

Seit sie denken kann, hat Eva Stocker eine fast panische Angst vor Zügen. Bis heute ist jede Bahnfahrt für sie mit Stress verbunden, sie sucht sich stets einen Platz an der Tür. Niemand von den Erwachsenen konnte ihr damals diese Angst erklären. Oder wollte es nicht.

Aber sie hat eine Ahnung.

Eva Stocker wuchs in Miskolc auf, einer ungarischen Stadt nahe der Grenze zur Slowakei. Ein Kind aus dem Waisenhaus, das adoptiert wurde. Sie kennt nicht den Namen ihrer Mutter und des Vaters, nicht den Ort ihrer Geburt, nicht das Datum.

Die einzige greifbare Information über ihre Herkunft fand sie als Halbwüchsige in einem Schuhkarton. Ein Zettel, auf dem der Name eines Ehepaares stand. Der Mann arbeitete auf dem Bahnhof von Košice. Eva Stockers Ahnung hat mit diesem Bahnhof zu tun. Es gibt Augenzeugen, die berichteten, wie verzweifelte Mütter ihre Babys aus dem Waggon reichten, in der Hoffnung, jemand möge sie retten. Und sie ist eines dieser Kinder.

Eine offene Frage - eine offene Wunde

Der Zettel aus dem Schuhkarton ist später verschwunden, ihre Adoptivmutter wich jedem Gespräch über ihre Herkunft aus. Die Fragen blieben trotzdem. Als Eva Stocker 18 Jahre alt wurde, begann sie selber zu suchen, die Namen der Eheleute aus Košice hatte sie sich gemerkt. Sie erfuhr, dass sie zu der ungarischen Minderheit gehörten, die nach dem Krieg im Zuge der Benes-Dekrete Košice innerhalb von 48 Stunden verlassen mussten. Und Miskolc ist die nächste größere Stadt in Ungarn. Im Waisenhaus dieser Stadt wurde sie von ihren Adoptiveltern gefunden.

Mehr erfuhr sie nicht. Wahrscheinlich, sagt sie, wird ihre Ahnung nie zu einer Gewissheit werden, die mit Dokumenten und Namen belegbar ist. Eine offene Frage oder eine offene Wunde, sie vermag das nicht zu sagen.

Manchmal, erzählt sie, stellt sie sich vor, wie sie ihre unbekannte Mutter aus dem Zug hebt und sagt: „Geh und lebe!“

Sie fand ihren Weg. Studierte, wurde Lehrerin, unterrichtete Kinder, träumte vom Film. Bewarb sich an der Filmhochschule in Budapest, studierte noch einmal und wurde Filmregisseurin.

Kinder in eine brennende Grube geworfen

Die Ahnung von ihrer Herkunft, die Fragen ohne Antworten hatten sich in ihrer Seele festgesetzt. Wie tief, wurde ihr 2013 während einer Bahnfahrt klar. Ausgerechnet. Sie las in einem Buch von Gabor Hirsch, einem ungarischen Juden, der als Jugendlicher nach Auschwitz verschleppt wurde. Auch sein Transport ging über den Bahnhof von Košice. Am Ende des Buches stieß sie auf lange Listen, in denen jeder Transport in das Todeslager aufgelistet war, der über Košice ging. Sie las die Zahlen, die Daten und brach in Tränen aus. Als habe das Schicksal auf diesen Moment gewartet, um ihr ihren Lebensauftrag zu geben.

Es war der Beginn einer Suche, die bis heute anhält. Nach Zeugenaussagen von Menschen wie Eva Pusztai, die das Grauen überlebt haben. Nach einer Antwort auf die Frage, wie man diesen Schatten entkommt und ob das überhaupt möglich ist. Eine Frau erzählte ihr von den Häftlingen, die an der Rampe von Auschwitz die Deportierten aus den Waggons leiten mussten und unter ihnen Angehörige erkannten. Und wussten, sie gehen direkt in die Gaskammer. Ein Mann erinnerte sich, wie sie ihn auf der Rampe von seiner Mutter trennten. Ein anderer daran, wie er sich beim Zählappell immer in die letzte Reihe stellte, um wegen seiner schmächtigen Gestalt nicht aufzufallen – so hatte es ihm sein Vater geraten. Sie erzählten von der Ahnungslosigkeit, mit der sie in Auschwitz ankamen. Einer von ihnen hatte die Krematorien mit den rauschenden Schornsteinen am Anfang für eine Bäckerei gehalten. Und als die Krematorien nicht mehr ausreichten, warfen sie Kinder in eine brennende Grube. Auch das erzählte ihr eine Frau.

Solange es Überlebende gibt, sollen sie bezeugen können

Es waren schwere Gespräche. Aber auch Gespräche voller Nähe, dafür ist sie dankbar. Für das Gefühl von Identität, das sie zum ersten Mal in ihrem Leben spürte. Für die Botschaft, die sie mitgaben: Niemals hassen, trotz allem nicht. Fast alle hatten sich nach dem Überleben auf das Lernen gestürzt, das fiel ihr auf. Das erste Kapitel deines Lebens schreibt das Schicksal, das zweite schreibst du selbst. Auch diese Lektion hatte sie gelernt.

Sie fragte nach den ersten Worten, die sie auf der Rampe gehört hatten. Sie fragte, was sie zu essen bekamen, zu trinken, welche Kleider sie ihnen gaben. Fragte, was genau passierte, wenn Mengele sie antreten ließ. Fragen, die sie ihrer unbekannten Mutter nicht stellen konnte. Alles sollte genau sein bis ins kleinste Detail. Niemand soll zweifeln, heute nicht und nicht künftig. Niemand soll behaupten dürfen, es sei ein „Vogelschiss in der Geschichte“ gewesen. Solange es Überlebende gibt, sollen sie bezeugen können: So war es. Ich habe es gesehen.

Wenn es so war, sagt sie, wenn sie ein Kind aus einem der Transporte in den Tod war, dann ist sie das ihrer Mutter schuldig.