Saalfeld. 1953 musste Ludwig Rexrodt mit seiner Familie ihr Hotel in Saalfeld verlassen – nun zeigt er es seinen Kindern.

Wie schmeckt Kindheit? Wie klingt, wie riecht sie in der Erinnerung? Welches Bild, welcher Ort ruft: Ich war deins, Schale und Spiegel deines Beginnens?

Ludwig Rexrodt sitzt am Freitag im Keller der „Güldenen Gans“, fühlt durch die Schichten des Erinnerns: Den Geschmack gekochter Kartoffeln mit Salz, die der Oberkellner den Kindern auf die Teller legte. Das Zischen des Gasgrills auf dem Absatz vorm „Kurfürstenkeller“. Der Kohlehaufen im Hof des „Hotel Anker“, der zu Kletterberg und Rodelbahn wurde. Der 74-Jährige schaut hinaus auf den Lichthof, zum Gang, wo die Abstellräume liegen. Es gab ja, sagt er, damals kein elektrisches Licht hier unten, wir sind mit Kerzen und Taschenlampen herumgestromert. „Wie die Detektive, das war spannend.“ Wir, die Kinder. Von Oberkellner Richard Titscher, von Fleischer Kurt Nimmrich, von Hotel-Konditor Heinrich Rexrodt junior, Ludwigs Vater. „Ich war acht, als ich zuletzt hier unten war“, sagt der hagere Graukopf, „seitdem nicht mehr.“ Das war 1953.

Damals werden die Brüder Hans und Fritz Rexrodt sowie Vater Heinrich Rexrodt als Gesellschafter von Hotel-, Restaurant- und Fleischerbetrieb enteignet, nach 52 Jahren der Familienfirma. Die Brüder, auch Ludwigs Vater Heinrich junior, waren zuvor über Nacht verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden, die Familie aus Hotel und Fleischerei vertrieben. Bald darauf gehen Ludwigs Onkel in den Westen, übernehmen in Reutlingen (Baden-Württemberg) das Café „Harmonie“, Fleischer Nimmrich folgt. Es gibt jetzt „Rexrodt’s Thüringer Wurst“ mitten in Schwaben. Ludwigs Vater bleibt noch in Saalfeld, darf 1955 eine Konditorei in der Fleischgasse eröffnen, sie läuft gut. Aber Familie ist Familie. Und der Schmerz bei jedem Blick über den Markt gen „Anker“ und „Güldene Gans“ bleibt. Beide werden jetzt von der staatlichen Handelsorganisation HO geführt. 1958 verlassen die letzten Rexrodts Saalfeld.

Von den Philippinen nach Saalfeld gekommen

Mit seiner Frau Felicidad, drei Töchtern, Schwiegersohn und Enkelchen Elena ist Ludwig Rexrodt am Nachmittag am Saalfelder Bahnhof angekommen und gen Markt gelaufen. Die Reise war eine Idee der Kinder, vor allem der jüngsten Tochter Susanne, die mit „Güldene Gans“-Wirt André Dubrow mehrfach hin und her telefonierte, bis alles organisiert war. 1990, als Fünfjährige, war sie mit den Eltern schon einmal hier. „Papa, dein Haus ist aber nicht so ganz schön“, soll sie damals ob des eher desolaten Zustands gesagt haben; man blieb dann lediglich zum Essen im Restaurant. Ebenso kurz, weil wenig erfreulich ob Empfang und laufendem Umbau, sei ein weiterer Besuch Mitte der 1990er verlaufen.

Danach mag Ludwig Rexrodt Reisen nach Saalfeld nicht mehr forcieren. Es sind nicht nur unbeschwerte Erinnerungen, die ihm vor Augen stehen. Die Heimatstadt ist auch jene, wo Vater und Onkel verhaftet, buchstäblich an den Pranger gestellt wurden: In einem Schaufenster am Markt ließen die Machthaber verkünden, welche angeblichen Untaten der Brüder die Enteignung rechtfertig hätten. Die schiefen Blicke, das Gerede von „Verbrechern“ und „Spekulanten“ in der Schule, es hat tiefe Kerben hinterlassen. Außerdem, so Rexrodt, habe er seinen Kindern die Reise zu den familiären Wurzeln nicht aufdrängen wollen, sie selbst sollten neugierig werden, zu den vielen Fotos in Familienalben, zu den Erzählungen auch die Anschauung hinzuzufügen wollen.

So ist es gekommen. Als der 74-Jährige, der mit seiner Frau seit einiger Zeit auf den Philippinen lebt und einmal pro Jahr nach Deutschland reist, am Flughafen Frankfurt ankam, wusste er lediglich, dass „irgendwas mit Saalfeld“ ihn erwarte. Nun folgt eine Überraschung auf die andere: Einzug in die Zimmer des einst eigenen Hauses, Cocktail-Empfang im Restaurant, Willkommen durch Bürgermeister Steffen Kania (CDU). Dann führt Hotelchefin Jaqueline Patzer durchs Haus. Das natürlich verändert ist seit Rexrodts Kindheit: Das Restaurant hat die Seiten gewechselt, Fleischerei und Konditorei verschwunden. „Wo ist denn der Ring?“, ruft der Besucher im Keller-Speiseraum; schließlich habe die Geschichte vom dortselbst angeketteten Kurfürsten Johannes Friedrich dem Gewölbe seinen Namen gegeben. Auch aus den Rexrodtschen Wohnungen unterm Dach und den Lehrlingsquartieren sind längst Gästezimmer geworden; der Blick immerhin aus der vormaligen Stube von Onkel Hans gen Saale und Hohen Schwarm betört wie ehedem.

Es folgt, was selbst Reiseorganisatorin Susanne bis dato nicht wusste: Der Bürgermeister bittet zum kurzen Gang durch die Stadt. Über den Markt hin zur Johanneskirche, wo bereits Kantor Andreas Marquardt wartet. Bald braust die Sauer-Orgel, ein Kindheits-Tönen für Rexrodt: Hier wurde er 1953, mit Vater, Mutter und Schwester vertrieben aus dem Haus seines Lebensbeginns, Thüringer Sängerknabe, bis zur Flucht in den Westen. Hier, wo das Bemühen um Schönheit die weltlichen Zumutungen für Momente verblassen lässt, fand er Aufnahme. Dann steht Rexrodt, Chorname Hermann-Jürgen, im Probenraum des Kantoratsgebäudes, 50 junge Stimmen lassen Schuberts „Forelle“ durchs Bächlein springen. Tief in sich versunken, lauscht der Gast dem Gesang. Hernach, auf dem Weg zurück zum Markt, fasst ein sichtlich berührter Ludwig Rexrodt nach der Hand seiner Frau. Ihr Vater, meint Susanne zum Abschied, habe sonst immer einen lockeren Spruch auf der Zunge: „So sprachlos habe ich ihn selten gesehen.“