Istanbul. Nach den schweren Erdbeben im Südosten der Türkei fürchten Forscher nun eine noch schlimmere Katastrophe für die Megacity Istanbul.

Sechs Monate nach der schweren Erdbebenserie in der Südosttürkei leben dort immer noch über 160.000 Menschen in Notunterkünften. Vielerorts fehlt es an Trinkwasser. Während die Regierung den Aufbau neuer, erdbebensicherer Städte verspricht, warnen Experten vor einer drohenden Bebenkatastrophe in der Megacity Istanbul. Dort könnte die Zahl der Todesopfer in die Millionen gehen.

Als am 6. Februar zwei Beben der Stärke 7,6 und 7,7 die Südosttürkei erschütterten, kamen mehr als 50.000 Menschen ums Leben. Weitere 8000 starben im benachbarten Syrien. 300.000 Gebäude stürzten ein oder wurden so stark beschädigt, dass sie unbewohnbar sind. Die schwersten Zerstörungen gab es in der Provinz Hatay und deren Hauptstadt Antakya. Das alte Antiochia, in der römischen Antike nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt der Welt, gleicht einem Trümmerfeld. Staatschef Recep Tayyip Erdogan beziffert die Sachschäden auf umgerechnet 100 Milliarden Euro. Er hat versprochen, die Häuser innerhalb eines Jahres wiederaufzubauen.

Arbeiter und Helfer bei Bergungs- und Aufräumarbeiten nach der schweren Erdbebenserie im Südosten der Türkei.
Arbeiter und Helfer bei Bergungs- und Aufräumarbeiten nach der schweren Erdbebenserie im Südosten der Türkei. © FUNKE Foto Services

Erdbeben in der Türkei: Immer noch werden Leichenteile gefunden

Tatsächlich ziehen Baufirmen am Rand der zerstörten Städte die ersten Neubausiedlungen hoch. Die Gebäude haben meist nicht mehr als sechs Stockwerke und sollen erdbebensicher sein. Derweil tragen Bagger die Schuttberge ab. Immer wieder werden dabei Leichenteile gefunden. Riesige Staubwolken ziehen über das Land. Fachleute warnen vor Gesundheitsgefahren, denn die Staubpartikel enthalten krebserregende Asbestfasern. Vielerorts ist das Leitungswasser verunreinigt und nicht trinkbar. Hunderttausende Menschen müssen deshalb mit Wasserflaschen versorgt werden – eine enorme logistische Herausforderung.

Aber die bisher schwerste Bebenkatastrophe in der jüngeren Geschichte der Türkei ist möglicherweise nur ein Vorbote dessen, was im viel dichter besiedelten Westen des Landes droht. Seit Jahrzehnten warnen Geologen vor einem bevorstehenden schweren Erdbeben unter dem Marmarameer vor Istanbul. Die Region liegt im Spannungsfeld tektonischer Platten. Bei Istanbul verläuft die nordanatolische Verwerfung, an der die Anatolische und die Eurasische Platte aufeinandertreffen. Das führt immer wieder zu heftigen Erdbeben. Im August 1999 ereignete sich bei der Industriestadt Izmit ein Beben der Stärke 7,6. Fast 19.000 Menschen starben. Auch im 100 Kilometer entfernten Istanbul gab es 200 Todesopfer.

Istanbul: Erdbeben könnte sich schon morgen ereignen

Viele Fachleute erwarten, dass sich das nächste große Beben viel näher an der 16-Millionen-Stadt Istanbul ereignen wird. Es kann sich in 20 Jahren ereignen – oder schon morgen. „Ich warne Istanbul“, sagt der bekannte türkische Geologe Celal Sengör. Er fürchtet: „Das Istanbul-Beben ist ziemlich nahe.“ Es könnte verheerende Folgen haben. Nach einer Studie der Stiftung für urbane Transformation (Kentsev) werden 491.000 der 1,2 Millionen Gebäude in der Bosporusmetropole betroffen sein. Expertenschätzungen gingen bisher von 40.000 bis 100.000 Toten aus.

Noch pessimistischer ist der türkische Erdbebenforscher Naci Görür. Der 76-jährige Professor für Geologie, der an der Technischen Universität Istanbul studierte und am Imperial College in London promovierte, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Erdbebengefahren im Marmarameer. „Das erwartete Beben wird eine Stärke von 7,2 bis 7,6 auf der Richterskala haben“, prognostiziert Görür vergangenes Wochenende im Fernsehsender Habertürk TV. Er veranschlagt, dass 600.000 Gebäude im Großraum Istanbul und der Marmararegion beschädigt werden oder einstürzen. „Wenn wir pro Gebäude nur vier Bewohner ansetzen, droht zweieinhalb Millionen Menschen der Tod“, fürchtet Görür.

Istanbul hätte sich nach dem Beben von 1999 besser auf die drohende Katastrophe vorbereiten müssen, sagte Görür in dem Fernsehinterview. „Wir sollten unsere gesamte Infrastruktur bebenresistent machen, also Straßen, Brücken, Tunnels, die Abwasser- und Trinkwassernetze.“ Das sei aber unterblieben. Der Wissenschaftler konstatiert: „In seinem gegenwärtigen Zustand ist Istanbul nicht auf das Erdbeben vorbereitet.“