Berlin/München. Eine Drag-Lesung in München sorgt für Debatten. Ist das Kindeswohl in Gefahr? Nein, sagt die Drag Queen Vicky Voyage – im Gegenteil.

Eine Vorlesung für Kinder sorgte in München für Aufregung. Zwei Drag-Kunstschaffende und eine trans Autorin sollen Kindern dort in einer Stadtteilbibliothek in einer "farbenfrohen Leserunde" aus altersgerechten Büchern vorlesen. Die Veranstaltung ließ bei konservativen Politikern Befürchtungen laut werden, bereits Vierjährige würden vermeintlich sexualisierenden Inhalten ausgesetzt. Teile der CSU, Freien Wähler und AfD forderten ein Verbot.

Allem Rummel zum Trotz wird die Stadt München die Veranstaltung nicht untersagen, das machte SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter Anfang der Woche klar. Worum geht es in solchen Drag-Lesungen für Kinder eigentlich? Welche Bücher bringen die Drag-Künstler mit, wie läuft so ein Auftritt ab? Unsere Redaktion hat mit Vicky Voyage gesprochen, einer Drag Queen, die in München vorlesen wird. Sie erklärt, was Drag eigentlich ist, was die Lesungen nicht sind und wie die Veranstaltungen Akzeptanz in der Gesellschaft fördern – und den Charakter junger Menschen stärken können.

Worum geht es bei Drag?

Vicky Voyage: Drag ist in erster Linie eine Kunst, in der es darum geht, Geschlechterklischees aufzubrechen. Historisch gewachsen ist diese Kunstform aus dem Theater Shakespeares, in dem Frauen nicht auf die Bühne durften, sondern von Männern dargestellt wurden. Das Wort wird manchmal als Abkürzung gelesen für "dressed as a guy" beziehungsweise "dressed as a girl", manchmal auch wörtlich übersetzt. Wer in Drag auftritt, zieht Blicke hinter sich her.

Was ist eine Drag Queen?

Vicky: Eine Drag Queen beziehungsweise ein Drag King stellt sich oft, aber nicht immer, übertrieben und im anderen Geschlecht dar. Dabei gehen manche Dragkünstlerinnen und -künstler sogar auch noch weiter und unterscheiden nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern hinterfragen mit ihrer Kunst das komplette binäre Geschlechtersystem.

Wie sieht Ihr Drag aus?

Vicky: Mit Vicky zeige ich meine feminine und verspielte Seite, mit der ich im Alltag manchmal schüchtern bin. Deshalb inszeniere ich meine Drag Persona oft als körperlich und charakterlich starkes weibliches schillerndes Wesen. Nach einem Drag-King-Workshop möchte ich künftig auch an meiner "King"-Persona versuchen.

Sie treten als Drag Queen vor Kindern auf. Was passiert bei solchen Veranstaltungen?

Vicky: Das ist eine Lesung für Kinder, wie man sie sich vorstellt. Wir lesen aus Büchern vor, in denen es um Selbstbestimmung geht, um Geschlechterrollen und Identitäten, nicht um Sexualität. Der Unterschied ist, dass wir in Drag vorlesen. So wie ein Zauberer mehr Magie versprüht, wenn er zum Zauberstab auch einen Umhang und Hut trägt, schmeißen wir uns in Drag und tragen nicht nur einen Rock.

Was sind das für Bücher?

Vicky: Kinderbücher, in denen Jungs Röcke tragen wollen, weil sie damit besser klettern können, sich freier fühlen, aber für den Rock ausgelacht werden. Dann gehen sie zu Papa, und der zieht auch einen Rock an und sie laufen zusammen durch die Straße und keiner lacht mehr. Oder in denen eine Prinzessin keine Frösche küssen will, aber eine andere Prinzessin ganz cool findet. Die Frösche schauen dann halt ins Meer, die Prinzessinnen finden zueinander.

Im Endeffekt sind das Geschichten, die zeigen, man sollte Menschen nicht in Schubladen pressen, sondern ihnen gestatten, sie selbst zu sein – egal ob man jetzt queer ist oder nicht. Die zeigen, es ist okay, anders zu sein und es ist okay, wenn jemand anders ist.

Drag Queen Vicky Voyage.
Drag Queen Vicky Voyage. © Vicky Voyage/privat

Zur Person: Vicky Voyage ist 34 Jahre alt und lebt in München. Sie ist seit 2018 Drag Queen und arbeitet hauptberuflich als Entertainer und freier Ingenieur. Sie hat bereits mehrere Lesungen vor Kindern gehalten.

Warum sollten sich schon Kinder damit auseinandersetzen?

Vicky: Es ist wichtig, Kindern früh zu erklären, dass es egal ist, wie man ist, dass es verschiedene Realitäten gibt und nicht nur die eine Heteronorm, die viele Leute im Kopf haben. Wer Bücher liest oder vorgelesen bekommt, in denen es darum geht, dass anders sein vollkommen okay ist, lernt Akzeptanz und fühlt sich in seiner eigenen Identität bestärkt. Und wer nicht queer ist, hat später mehr Verständnis für queere Menschen und beschimpft sie nicht als schwule Sau oder mobbt sie auf dem Schulhof oder schickt ihnen Todesdrohungen.

Teile der Politik argumentieren, das Kindeswohl sei bei solchen Lesungen in Gefahr. Was sagen Sie dazu?

Vicky: Diese Diskussion führen Erwachsene, und das zum Leid der Kinder. Die Lesung in München wird jetzt von Demonstrationen begleitet sein, die AfD hat eine angemeldet, Querdenker wollen aufmarschieren. Wie dient das dem Kindeswohl, wenn die Kinder mit ihren Eltern da jetzt nicht einfach hingehen können, sondern durch die Demos müssen?

Gewarnt wird gerne auch vor Frühsexualsierung im Zusammenhang mit solchen Lesungen. Wie stehen Sie zu dem Vorwurf?

Vicky: Ich verstehe schon, wo dieser Vorwurf herkommt. Drag ist für viele Menschen etwas Neues, das sie nicht kennen. Sie wissen nicht, worum es geht, und aus diesem Unwissen heraus entsteht der Vorwurf, die Angst, das eigene Kind könnte sexualisiert werden. Was wir tun, ist aber nicht sexuell oder skandalös. Erwachsene machen aus Namen wie "Eric BigClit" einen Skandal, da hat jemand Klitoris gesagt, das geht nicht. Kinder interessiert das null, die sind viel urteilsfreier als wir Erwachsene. Und wenn eines fragt, was ist das, eine Klitoris? Dann erklärt man es eben, ein Körperteil, wie jedes andere auch, und macht da kein Tabu daraus.

Wie reagieren Kinder denn auf Drag Queens?

Vicky: Ich hatte bislang nur positive Reaktionen. Auf einer CSD-Parade in München war ich als Fee unterwegs, die Kinder sind aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Die sehen das und finden es toll, dass wir als erwachsene Menschen immer noch so viel Fantasie haben, in andere Welten eintauchen. Dass Erwachsene nicht nur arbeiten, dass Kinderwelten auch außerhalb des Kindergartens existieren.

Und bei Lesungen, wie sind da die Reaktionen?

Vicky: Auch immer sehr positiv, von Kindern, Jugendlichen, aber auch den Eltern, die total begeistert waren, mich ermuntert haben, auch weiterhin solche kindgerechten Lesungen anzubieten. Manche fragen hinterher nach den Büchern.

Kindgerecht, wie geht das im Zusammenhang mit Drag? Gibt es vielleicht Kostüme, die Sie im Schrank lassen?

Vicky: Ich wähle für solche Lesung Outfits, die nicht so freizügig sind und mit denen Kinder etwas anfangen können. Prinzessinnen oder Fabelwesen, alles in einem freundlichen Rahmen, märchenhaft. Die Kinder sollen sich nicht erschrecken, meine Halloween- oder Burlesque-Kostüme bleiben zuhause. Vielleicht wird es dieses Mal eine Schneekönigin.

Nach der Lesung gibt es eine Fragestunde. Was kommen denn für Fragen von Kindern, wenn eine Drag Queen ihnen vorgelesen hat?

Vicky: Das sind oft ganz naive Fragen. Wo hast du dein Kleid gekauft, wie lange dauert es, bis du geschminkt bist, so etwas fragen Erwachsene. Bei Kindern geht das in eine andere Richtung. Wenn ich als Schneekönigin unterwegs bin, dann sind das Fragen wie, kannst du wirklich zaubern, wohnst du in einem Eisschloss, wie alt bist du? So als ob ich eine 2000-Jahre alte Legende wäre. Kinder sehen nicht unbedingt einen Mann hinter dem Drag.

Sie schreiben, Sie hätten Morddrohungen erhalten. Wie gehen Sie mit solchen Anfeindungen um?

Vicky: Hassbotschaften nehme ich ernst, die gehen eins zu eins weiter zur Polizei. Bis zu einer gewissen Niveaugrenze kann man mit mir reden, aber es gibt einen Punkt, da hilft reden nicht mehr. Wenn Leute menschenverachtend werden, muss man handeln.