Axel Eger, der nun auch als Läufer ein Unvollendeter ist.

Auf dem Rennsteig ist alles drin. Wer hier unterwegs ist, erlebt im Auf und Ab der Berge das Auf und Ab des Daseins. 170 Kilometer an der Grenze von Genuss und Qual, Triumph und Leiden, Himmel und Hölle. Körper, hört die Signale! Ein Laufgefecht mit zwickenden Muskeln, rebellierenden Beinen und Pfaden ins Nirgendwo. Der Weg zur Weisheit ist kurvig. Sagt Konfuzius. Der zum Ziel auch. Manchmal wird er sogar unerreichbar.

Verletzen, verlaufen – vergessen, verzeih’n? Funktioniert leider nicht. Auf den ersten Metern ins Verhängnis spürt man weder das eine noch das andere. Übersieht Wegweiser, ignoriert Warnschilder. Auf den nächsten will man es nicht wahrhaben. Verdrängt es kühn. Hofft auf eine göttliche Fügung. Doch irgendwann kommt der Punkt, der keine Wahl mehr lässt. Stehenbleiben, umkehren. Oder gar: aufhören.

Das ist der schwerste Moment. Weil es keinen Ausweg gibt. Hoffnung und Wirklichkeit schrammen ungerührt aneinander vorbei wie die gefällten Fichten im Frankenwald. Oben lacht die Sonne, tief drinnen weint das Herz. Die Unwiderruflichkeit schmerzt. Mehr als alle Wunden. Und niemand taugt als Sündenbock. Hinter einem überstrapazierten Muskel steckt keine höhere Macht. Kein Boykott, der sich beklagen lässt. Im Zweifel nur die eigene Unvernunft.

Die Entscheidung zu artikulieren erfordert mehr Kraft als alle Anstiege um Blankenstein, Neuhaus und Masserberg zusammen. Diktiert wird sie nicht vom Kopf. Der will weiter. Das letzte Stopp schreit der Körper. Der, den man so gern überlistet. In vielen Momenten ist es gut und richtig, dass der Wille uns antreibt. Dass die Träume oft mehr helfen als der Verstand. Sonst würden wir es nie schaffen, 40 Kilometer und mehr am Stück zu laufen. Doch will der Kopf durch die Wand, wird’s heikel.

Den gnadenlosesten Widerhall des Aufhörens aber erzeugt die Einsamkeit. Natürlich sind die, die bis eben vor, neben oder hinter dir liefen, noch immer da. Das Miteinander scheitert nicht an einem überlasteten Oberschenkel. Im Gegenteil: es fängt dich auf. Doch am Abend solcher Tage, wenn der Läufer erst zum Begleiter, dann zum Zaungast und schließlich zum Frühpensionierten geworden ist, wechselt die Perspektive jäh. Die Freuden und Ängste und Wege und Wagnisse, die man eben noch mit allen geteilt hat, sind merkwürdig verblasst. Das Gestern wirkt wie ferne Erinnerung, im Plan für morgen kommt man nicht mehr vor.

Ein Läuferfeld, das am Grenzadler lachend und kieselsteinknirschend davon trabt, gleicht einem Kahn fröhlicher Leute, der unsere Sehnsucht mit auf die Reise nimmt. Ohne Bordkarte in der Hand blicken wir ihm nach, bis er im wogenden Grün entschwindet.

Der Schatten des Verzichts fällt im kleinen Sport so hart wie im großen. Auch wenn die Dimensionen ganz andere sind. Dort geht es um Olympia, hier um das Hobby. Dort um sportliche Existenzen, Förderstufen, Werbeverträge, hier allein ums Vergnügen. Die einen stehen unter dem Druck des Publikums. Wir anderen nur unter dem eigenen.

Und doch unterscheiden die Gefühle nicht nach Profi und Amateur, nicht nach Olympiastarter und Rennsteig-Etappenläufer. Vielleicht, weil es menschlich ist, überall nach dem Bestmöglichen zu streben. Weil ein Aus immer auch zum emotionalen Faserriss wird, zum Abschied von unseren Hoffnungen. Seien sie auch noch so klein. Das ist im Leben nicht anders als im Sport.

Aber der Sport erlaubt, was das Leben uns versagt. Wir können noch einmal ganz zum Anfang zurückkehren. Erneut den Reiz des Ungewissen spüren, wenn wir wieder am Start stehen. Und versuchen, es besser zu machen. Die zweite, ja dritte, vierte Chance nutzen, die uns anderswo oft genug vorenthalten bleibt.

Zurück auf den Rennsteig also. Nächstes Frühjahr. Die gleiche Strecke, die gleichen Wege, die gleichen Stationen. Die gleichen Geschichten am Abend. Langweilig? Überhaupt nicht. Da gibt es zum einen, je nach Jahreszeit und Wetterlage, sowieso immer neue Einblicke. Und da erfasst uns zum anderen schon jetzt eine unbändige Vorfreude. Die Gewissheit, an einen vertrauten Platz zu kommen, stiftet inneren Frieden. Das Gefühl, schon einmal Erlebtes neu zu erleben, bedient unsere ewige Sehnsucht, die Zeit festzuhalten.

Also dann, bis zum nächsten Lauf, Freunde! Neues Glück heilt alten Schmerz.