Holger Zaumsegel über den tiefen Fall zweier Radsport-Idole

Quäl dich, du Sau!“ So ziemlich jeder Radsport-Fan der 1990er-Jahre kennt diesen Spruch von Udo Bölts. Der Edelhelfer blies seinen Kapitän Jan Ullrich 1997 so richtig den Marsch, als der auf der 18. Etappe schwächelte. Und „Ulle“ quälte sich und gewann diese Tour de France als erster und immer noch einziger Deutscher in souveräner Manier. Am Montag vor 23 Jahren rollte der damals 23-Jährige bei der Frankreich-Rundfahrt auf der Champs-Élysées in Gelb ins Ziel.

Mit dem Tour-Sieg 1997 stieg Ullrich binnen kürzester Zeit in den Olymp der deutschen Sportler auf. Der Rostocker verursachte einen Radsport-Hype, den es bis heute in Deutschland nicht wieder gegebenen hat. Die Rennen zu schauen, war Pflichtprogramm, aufregend und beruhigend zugleich. Einerseits konnte man bei den stundenlangen französischen Landschaftsbildern gerne einmal zwei Augen zudrücken, andererseits stieg der Puls ins Unermessliche, wenn der Schlussanstieg oder -sprint bevorstand.

1997 hatten die deutschen Fans für Ersteres den „Ulle“ und für Letzteres Erik Zabel, der 1997 gleich drei Etappen und das Grüne Trikot gewann. Aber Ullrich stellte ihn in den Schatten. Unvergessen sein Antritt nach Andorra Arcalis auf der „Königsetappe“. Nach dem Okay des schwächelnden Bjarne Riis trat Ullrich, als Einziger noch im Sattel sitzend, in die Pedale und deklassierte nicht nur seinen eigentlichen Kapitän, der fortan Helfer war, sondern auch Richard Virenque und den unvergessenen Marco Pantani.

Beim Abschiedsrennen von Jens Heppner 2005 in Jena lockte vor allem Ullrich, mittlerweile Tour-Dauerzweiter hinter Lance Armstrong, Tausende auf die Straßen. Und er sorgte bei einem jungen Reporter, der seine ersten journalistischen Schritte machte und ihn interviewen sollte, für eine nie wieder gekannte Nervosität.

Heute ist Ullrich nichts mehr vom Ruhm geblieben. Der ehemalige Vorzeigeathlet, der eigentlich in eine Liga mit Boris Becker, Michael Schumacher oder Franz Beckenbauer gehört, ist tiefer gefallen als man es sich ausmalen könnte.

Dass seine Leistungen nicht allein auf seinen Trainingsfleiß und sein Talent zurückzuführen sind, kam 2006 ans Licht, als er wegen seiner Verwicklung in den Fuentes-Skandal von der Tour ausgeschlossen wurde. Reue zeigte er nie, obwohl er 2013 einräumte, dass er gedopt hat. Weil alle anderen auch betrogen hätten, kann Ullrich darin aber keine Verfehlung erkennen. Eine bequeme Ausrede.

Vor zwei Jahren der endgültige Tiefpunkt: Ullrich wurde, weil er auf dem Grundstück seines Mallorca-Nachbarn Till Schweiger randaliert, in Gewahrsam genommen. Einige Tage später wurde er in Deutschland wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung einer Escort-Dame verhaftet, angeklagt und verurteilt. Drogen- und Alkohol-Missbrauch haben aus dem einstigen Idol jemanden zum Fremdschämen gemacht.

Geblieben ist Ullrich zumindest sein Tour-Erfolg von 1997. Seinem größten Rivalen, Lance Armstrong, dagegen keiner seiner sieben. Auch der letzte von vor 15 Jahren nicht. Ihm wurden alle aberkannt.

Im Gegensatz zum Rostocker war der Texaner schon während seiner Karriere unverkennbar ein Machtmensch. Sein Umgang mit Rivalen und zu stark gewordenen Helfern, seine ausgefeilten Dopingpraktiken lassen ihn im Nachhinein als den Paten seiner Zeit erscheinen. Sein Name werde gemieden, wie der von Lord Voldemort aus dem Harry-Potter-Universum, beklagte sich der heute 48-Jährige. Wie ein Super-Bösewicht kommt er manchen auch vor.

Armstrong und Ullrich fühlen sich wie Ausgestoßene, haben nie überwunden, dass ihnen heute das Rampenlicht verwehrt bleibt und ihre Leistungen kaum gewürdigt werden. Die Ursache liegt nicht an unserer knallharten Gesellschaft, die keinen Fehler verzeihen kann. Gerade für gefallene Helden, haben sie auch noch so viele Fehltritte begangen, ist immer eine Tür auf. Die Ursache für den Umgang mit Ullrich und Armstrong ist, dass sie nie ernsthaft Reue gezeigt, nie glaubwürdig um Vergebung gebeten haben. Zum Glück für beide ist es dafür nie zu spät.