Frank Quilitzsch erinnert an Christa Wolf, die vor 90 Jahren geboren wurde.

Im Jahr, als Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ erschien, wohnten wir dort, wo die Liebesgeschichte von Rita und Manfred spielt: in Halle an der Saale. Das Buch stand bei uns im Regal. Ich war sechs Jahre alt und wusste nichts von der deutschen Teilung. Mein Vater ging wenig später für vier Jahre nach Moskau, meine Mutter und ich folgten ihm.

Als ich das Buch während meines Studiums in Jena las, faszinierte mich vor allem ein Satz: „Der Himmel teilt sich zuallererst.“ Rita sagt das, bevor Manfred in den Westen geht. Rita bleibt, und ihre Liebe zerbricht.

Bei Christa Wolf finden sich etliche solcher Sätze, in denen viel mehr mitschwingt. Der sich über den Liebenden teilende Himmel – er wurde zum Synonym für das Zeitalter des Kalten Krieges.

Auch der Anfang ihrer Erzählung „Kassandra“ jagt einem Schauer über den Rücken: „Mit der Erzählung geh ich in den Tod...“ Die antike Seherin prophezeit, indem sie Trojas Untergang vorhersagt, das Ende totalitärer Regime.

Ganz anders der Auftakt zu Christa Wolfs autobiografischem Roman „Kindheitsmuster“, der eine neue Erinnerungskultur gestiftet hat: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Zu glatt war der Übergang in jene Ordnung verlaufen, die sich unter Stalins Diktat als Alternative zum Kapitalismus betrachtete. Christa Wolf verwahrte sich gegen den staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR und setzte schreibend ihre Erfahrung dagegen.

Und doch hat die in Ost und West von Millionen Lesern verehrte Autorin 1990 die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Von China aus habe ich noch ihren Aufruf „Für unser Land“ unterschrieben, mit dem sich Hunderttausende für einen demokratischen DDR-Sozialismus einsetzten. Eine Illusion. Die deutsche Vereinigung vollzog sich schneller als gedacht.

Mit „Medea. Stimmen“, einem Roman, der im mythischen Gewand von Heimatverlust und Sieger-Intoleranz erzählt, meldete sich Christa Wolf 1996 bei ihren Lesern zurück. Die Deutschen aus Ost und West, so hat sie damals in ihrer Dresdner Rede vorgeschlagen, sollten einander ihr Leben erzählen.

Von ihrem hat sie ausführlich erzählt, auch in dem ein halbes Jahrhundert umfassenden Tagebuch „Ein Tag im Jahr“. Darin schildert sie jeweils, wie sie den 27. September erlebt hat. Der letzte Eintrag, 2011, erfolgt nur noch stichpunktartig: „Nun schon über 2 Wochen dieses Leben zwischen Bett und Sessel... Dazwischen irre Schmerzen, die jetzt durch stärkere Schmerzpflaster gedopt sind. Schwere Zweifel, wie es weitergehen soll...“

Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011. Heute vor 90 Jahren wurde sie geboren. Kassandras Stimme fehlt heute.