Tokio. Marxismus war das letzte Studienfach, das man in Vietnam gratis studieren konnte – bis jetzt. Der Bildungsmarkt ändert sich dramatisch.

Ein Grundsatz des Kommunismus ist die Gleichheit aller. Aber im südostasiatischen Vietnam, wo die Kommunistische Partei seit mittlerweile einem halben Jahrhundert regiert, ist bis vor Kurzem nur das Marxismusstudium gratis gewesen. Sie haben richtig gelesen: In Vietnam kann man das noch immer studieren. In dem Studiengang werden die Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels gelehrt, von Entfremdung über Ausbeutung bis Revolution. Egalität ist hier aber nicht mehr gefragt – fortan muss auch hierfür bezahlt werden.

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Dass es das Studienfach in Vietnam überhaupt noch gibt, mag exotisch anmuten. Allerdings zählt es auch hier schon länger nicht mehr zu den populären Fächern. Beliebter sind Fächer wie Tourismus, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen.

Vietnam: Marxismus studieren – „Das kostet jetzt 600 Euro!“

Bereits Mitte des vergangenen Jahrzehnts berichteten Professoren, dass sie in ihren Vorlesungen über die Theorien von Marx und die Umsetzungen des russischen Revolutionärs Lenin kaum noch Studierende zählten. Auch das Interesse an Nationalheld Ho Chi Minh, der Vietnams Kommunisten zum Sieg gegen die USA führte, hat nachgelassen. „Heute dreht sich viel ums Geldverdienen“, bemerkt Dung Ngoc Duong, Philosophieprofessor an der Hoa Sen Universität in Ho Chi Minh City. Fragen der Verteilung – im Kommunismus zentral – gelten zusehends als intellektuelle Anstrengung.

Der Bildungssektor des kommunistischen Landes wird gerade zu einem großen, freien Markt. Dies geht mit einem Rückzug des Staates einher, wie Dung Ngoc Duong berichtet: „Offiziell hieß es immer: Bildung wird vom Staat finanziert.“ Das Prinzip scheint in Vergessenheit geraten. „Bis vor kurzem gab es nur noch die Ausnahme des Marxismusstudiums.“ Mit dem aktuellen Studienjahr hat sich auch dies geändert: „Marx studieren kostet jetzt 16 Millionen Dong!“ Das entspricht 600 Euro.

Vietnam: Studentin schuftet für ihre Ausbildung

Spring studiert Internationale Beziehungen. Hätte sie ein anderes Studienfach gewählt und wäre sie zehn Jahre früher zur Welt gekommen, könnte sie jetzt ein relativ ruhiges Leben führen. „Ich arbeite bis zu 35 Stunden pro Woche“, sagt die Studentin an einem Morgen vor ihrer Vorlesung. Täglich muss sie für Prüfungen pauken und an Seminararbeiten schreiben. Und dass das alles überhaupt möglich ist, muss sie sich zuerst auch noch verdienen: Mit Jobs als Nachhilfelehrerin für Englisch und in einem Café. „In Vietnam ist das heute so“, sagt sie achselzuckend. „Studieren kostet hier eben viel Geld.“ Für ein Land, das von einer kommunistischen Partei regiert wird, klingt das überraschend.

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Oft reichen Nebenjobs nicht aus, um sich ein Studium in Vietnam zu finanzieren. „Im Café kriegt man umgerechnet ungefähr einen Euro pro Stunde. Für Nachhilfe sind es immerhin fünf Euro“, erklärt eine Studentin.
Oft reichen Nebenjobs nicht aus, um sich ein Studium in Vietnam zu finanzieren. „Im Café kriegt man umgerechnet ungefähr einen Euro pro Stunde. Für Nachhilfe sind es immerhin fünf Euro“, erklärt eine Studentin. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Velar Grant

Für Studierende wie Spring wird das junge Erwachsenenalter damit ähnlich stressig wie jenes in seit jeher kapitalistischen Ländern wie den USA, wo Studierende mit hohen Schulden ins Berufsleben starten. Spring zählt auf: „Im Café kriegt man umgerechnet ungefähr einen Euro pro Stunde. Für Nachhilfe sind es immerhin fünf Euro. Aber das Geld reicht damit noch lange nicht aus.“ Die 21-jährige aus Ho Chi Minh City, der größten Metropole des Landes, wird von ihrer Familie unterstützt. „Ansonsten könnte ich mir das Studium niemals leisten.“

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Vietnam: Studium nur noch für Wohlhabende?

60 Millionen Vietnamesische Dong muss Spring pro Jahr zahlen – umgerechnet gut 2300 Euro. Das ist nicht nur sehr viel Geld für ein Land, in dem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf rund 3.700 Euro beträgt, also einem Zwölftel der deutschen Wirtschaftsleistung. Bis vor kurzem dienten die hohen Gebühren auch als impliziter Anreiz, sich doch für das kostenlose Fach Marxismus zu entscheiden. Spring sagt: „Das machen eher diejenigen, die für die Regierung arbeiten wollen.“ Sie selbst aber wolle mit ihrem Abschluss in Internationale Beziehungen nicht Politik machen, sondern Business.

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Die junge Frau entspricht damit dem Zeitgeist. Nachdem die Kommunisten 1975 den über zwei Jahrzehnte wütenden Vietnamkrieg gegen die USA endgültig gewonnen und ihre Macht gesichert hatten, kontrollierte der Staat die Wirtschaft nur für rund zehn Jahre. Danach begann die KP eine tiefgreifende Liberalisierungspolitik, die insbesondere Privatbesitz an Produktionsmitteln und die Umsetzung unternehmerischer Ideen erlaubte. Seither hat sich die Ungleichheit vergrößert, aber das Wirtschaftswachstum ist rasant: Das BIP hat sich seit Mitte der 1970er Jahre verfünfzigfacht.

Vietnam: Staat zieht sich aus Bildungssektor zurück – mit schweren Folgen

Studierende während einer Vorlesung an der Rechtshochschule Hanoi (Symbolbild).
Studierende während einer Vorlesung an der Rechtshochschule Hanoi (Symbolbild). © IMAGO/photothek | IMAGO stock

Dass sich der Staat auch aus dem Bildungssektor weiter zurückzieht, hat nicht zuletzt mit der Pandemie zu tun, in der die Regierung mehr Geld für Gesundheit ausgeben musste. Hochschulen werden unterdessen immer abhängiger von Einnahmen durch Studiengebühren. Einige finden schon: zu abhängig. So schrieb die Zeitung VN Express im vergangenen August: „Studiengebühren machen die Mehrheit der Einnahmen von Vietnams Universitäten aus. Dies steht im krassen Widerspruch zu Universitäten anderswo in der Welt, wo öffentliche Budgets die größte Rolle spielen.“

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Die Zeitung kritisierte die Streichungen im Bildungsetat zwar nicht direkt – in Vietnams Ein-Parteien-System ist es höchst problematisch, die Regierung zu kritisieren – aber der Artikel ließ nicht unerwähnt, dass Vietnams öffentliche Ausgaben für Bildung auch im internationalen Vergleich niedrig sind. Außerdem wurde Tran Xuan Nhi zitiert, Vizepräsident der Vereinigung von Universitäten und Hochschulen in Vietnam, der demnach sagte: „Universitäten müssen höhere Gebühren verlangen, um zu überleben; obwohl sie wissen, dass dies nicht zu den Lebensstandards vieler Menschen passt.“

Tran Xuan Nhi: „Höhere Gebühren sorgen auch für Bildungsungleichheit“

Hinzu komme, so Tran Xuan Nhi: „Dass höhere Gebühren auch für Bildungsungleichheit sorgen, den Zugang zu guter Bildung erschweren und schließlich auch die ökonomische Entwicklung schwieriger machen.“ Jungen Menschen bleibt kaum etwas, als den Anreizen nachzukommen, die ihnen das System gibt: Sie versuchen, in möglichst wenig Zeit möglichst viel zu schaffen, und dafür vielleicht sogar schon während des Studiums belohnt zu werden: „Wenn man gut gelernt und gute Noten hat, kann man bei den Studiengebühren einen Rabatt von zehn Prozent kriegen“, so Spring.

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Die Studentin betont aber, dass so ein Leistungsstipendium nicht genug sei für diejenigen, die es eigentlich am nötigsten hätten. „Wer aus ärmerem Hause kommt, kann sich das Studieren auch dann nicht leisten.“ Bisher sich hätten viele derer, denen für ein Medizin- oder BWL-Studium das Geld fehlt, noch für Marxismus eingeschrieben. Aber jetzt, mit den neuen Gebühren, könnte dies weiter abnehmen. Hinter vorgehaltener Hand hört man in Vietnam oft dies: Mit Kommunismus habe der Bildungssektor nicht mehr viel zu tun, umso mehr aber mit Kapitalismus.