Berlin. Für Putin läuft die Stationierung von Atomwaffen “nach Plan“. Experten checken die “nuklearen Optionen“. Das hat die Krim damit zu tun.

Gesagt, getan. Ab Anfang Juli will Russlands Präsident Wladimir Putin taktische Atomwaffen in Belarus stationieren. Überraschend ist das nicht. Ende März hatte er den Schritt angekündigt. Seit Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 hat er regelmäßig die nukleare Option ins Spiel gebracht. Hat sich die Drohung abgenutzt?

Als er sich am Freitag in Sotschi am Schwarzen Meer mit dem belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko traf und einen konkreten Termin für die Aktion nannte – am 7. und 8. Juli –, nahm kaum jemand im Westen davon Notiz. Putins Botschaft für daheim: "Alles läuft also nach Plan, alles ist stabil." Lesen Sie auch: Russische Atomwaffen in Belarus: Putins Plan gibt Rätsel auf

Experte glaubt: Eroberung der Krim wäre der Auslöser

London, Hamilton Place, unweit von Piccadilly Circus, feinste Adresse, Hauptquartier der "Royal Aeronautical Society". Ende Mai ist zum "Future Combat Air & Space Capabilities Summit" nur ein kleiner exklusiver Kreis von rund 300 Experten aus Militär und Rüstungsindustrie eingeladen. Man ist unter sich und die Ukraine ein Thema in den meisten Referaten.

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Geradezu bedrohlich klingt, was Professor Wyn Bowen zu sagen hat. Bowen ist Co-Direktor am Freeman Air and Space Institute am renommierten Kings College. Und dieser Fachmann glaubt, dass jeder Versuch die Krim zurückzuerobern für Russland der Auslöser sein könnte, "die Schwelle mit taktischen Atomwaffen zu überschreiten". Auf der Homepage der royalen Gesellschaft heißt es dazu, "ein weiterer ernüchternder Vortrag". Das nennt man wohl Understatement. Very british. Lesen Sie dazu: Wird die Ukraine die Krim erobern, Professor Masala?

Wissenschaftler: Putin hat sich "in eine Ecke eskaliert"?

Der Experten redet nicht von "Warnschüssen", wohlgemerkt. Zwei oder drei Atomwaffen, auf militärische Ziele gerichtet, führte er aus, "möglicherweise sogar außerhalb der Ukraine an Versorgungszentren und Ausbildungszentren für ukrainische Streitkräfte in NATO-Ländern". Das Bündnis müsse dann überlegen, wie es auf diese Angriffe reagieren soll.

Spätestens hier ist eine Erklärung nötig. Taktische Atomwaffen sind zumeist auf Trägersystemen mit einer Reichweite von bis zu 100 Kilometern angebracht. Ihre Sprengkraft variiert zwischen 0,3 und mehr als 50 Kilotonnen TNT. Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Sprengkraft von 16 Kilotonnen TNT.

In Belarus stationierte Atomwaffen sind also eine potentielle Gefahr, mindestens für nahe Staaten wie die Ukraine, Polen und die baltischen Länder. Die USA wissen das. Schon Putins Ankündigung im März hat ihren Protest ausgelöst – jetzt also folgt der Vollzug der Stationierung.

In Fachkreisen gehen die Meinung extrem auseinander. Fabian Hoffmann sagt über sich selbst, er sei weder naiv noch ein Idealist. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation nehme er ernst, "durchaus". Aber eine umfassende Analyse zeige, "dass ein nukleares Eskalationsszenario in erster Linie nicht in Putins (oder Russlands) Interesse ist", analysierte er auf Twitter.

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Dem Wissenschaftler, der am norwegischen Oslo Nuclear Project forscht, werfen Kritiker einen Denkfehler vor. Sie sagen, Putin sei irrational, mit einem Satz: Ihm sei alles zuzutrauen, auch DIE Bombe. Hoffmann erwidert, "dann kann ich an dieser Stelle meine Analyse einpacken und aufhören nachzudenken."

Beunruhigender Vortrag im kleinen Kreis der Fachleute

Er ist überzeugt: "Putin wird nicht zur Nuklearwaffe greifen". Konventionell habe er sich in eine Ecke eskaliert und könne nicht mehr drauflegen. "Eskalationsszenarien sollten uns nicht länger abschrecken. Diese Position war moralisch nie haltbar, ist es aber auch politisch nicht länger."

Gleichwohl hat der Wissenschaftler wiederholt Putins sogenannte nukleare Optionen gedanklich durchgespielt, unter anderem bereits im März 2022 in der "Washington Post". Genauer gesagt sind es nach Hoffmanns Einschätzung drei:

  • ein Signalschlag gegen unbewohnte Ziele
  • einen taktischen Nuklearschlag gegen militärische Ziele
  • einen Signalschlag gegen bewohnte Ziele

Ein Signalschlag beispielsweise über dem Schwarzen Meer hätte das Ziel, Russlands Entschlossenheit zu demonstrieren und den Willen der Ukraine zur Landesverteidigung zu brechen. Aller Voraussicht nach würden sich die Ukrainer unbeeindruckt zeigen, glaubt er. "Auf der anderen Seite wären die politischen und wirtschaftlichen Folgen für Putin fatal. Ein Land bricht nicht einfach so das nukleare Tabu, ohne die Auswirkungen zu spüren."

Taktische Atomwaffen: Vom "No Go" zum Testfall für die Nato?

Hoffmann listet sie gewissenhaft auf: Paria-Dasein in der UN, Indien und China gegen sich aufgebracht, Ausschluss aus den G20, weitere Sanktionen. Ein No-Go also.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Ein taktischer Nuklearschlag gegen militärische Ziele hätte die Absicht, Truppenkonzentrationen wie in der anlaufenden Gegenoffensive zu zerschlagen, entweder um einen feindlichen Vormarsch zu stoppen oder um einen offensiven Durchbruch zu forcieren. "Das Problem hier sind die geringen Truppenkonzentrationen in der Ukraine." Die Wirkung eines taktischen Nuklearschlags wäre aller Voraussicht nach militärisch nicht entscheidend. Das könnte Sie auch interessieren: Ukraine: Selenskyj startet Countdown für Gegenoffensive

Letztes Szenario: ein Nuklearschlag gegen eine Stadt. Das würde eines mit Sicherheit bringen: eine NATO-Intervention, meint Hoffmann. Bowen ist sich da nicht so sicher. In seinem ernüchternden Vortrag unter dem Titel "Abschreckung – das Undenkbare denken" bemerkte er in London, das wäre "ein kritischer Test für das Bündnis". Ein Test, denn die Nato erst bestehen müsste. Für ihn steht fest, dass seit dem Einmarsch in die Ukraine "Atomkrieg und Abschreckung wieder auf der Tagesordnung stünden".