Duderstadt. Der Prothesenhersteller Ottobock bildet ukrainische Techniker aus, damit sie die vielen Kriegsversehrten wieder mobil machen können.

Es braucht einige Anläufe, bis Maxim Chernysh das korrekte Ergebnis ermittelt. Etwas unsicher drückt der Ukrainer seinen kleinen weißen Zollstock an das Bein von Jürgen Grube und misst den Abstand zwischen Knie und Boden aus. Die Ergebnisse kritzelt er auf ein Blatt, bevor er Grube zum Aufstehen auffordert. Das gelingt diesem mit einer erstaunlichen Leichtigkeit – fehlt ihm doch das rechte Bein, das er vor 30 Jahren bei einem Motorradunfall verloren hatte. Doch das „C-Leg 4“, ein mikroprozessorgesteuertes Kniegelenk des Prothesenherstellers Ottobock, macht ihn wieder mobil.

Während in der beschaulichen niedersächsischen Ortschaft Duderstadt nur ein paar Häuser weiter im Ottobock-Werk die automatisierten Maschinen auf Hochbetrieb künstliche Arme und Beine herstellen, sitzen an diesem Wochenende in den Schulungsräumen am Ortsrand drei sogenannte Modellanwender wie Grube parat. Flankiert werden sie von neun ukrainischen Orthopädietechnikern, die hier lernen, wie die künstlichen Kniegelenke an den Patienten kommen. Ihr Ziel: Den unzähligen Kriegsopfern ein mobiles Leben zu ermöglichen.

Ottobock: Führender Prothesenhersteller zertifiziert die Techniker

Ottobock, einer der weltweit führenden Hersteller auf dem Gebiet der Prothetik, ist längst auf dem ukrainischen Markt angekommen. Mit Geldern des Auswärtigen Amtes und des Gesundheitsministeriums lieferte der Hersteller bereits im September einen Werkstattcontainer nach Lwiw, der dort an ein Krankenhaus angedockt wurde, um nach der Amputation möglichst schnelle Hilfe zu ermöglichen.

Mittlerweile habe Ottobock mit Partnern eine stabile Logistik aufstellen können, um die Ukraine mit Komponenten und Materialien zu versorgen, wobei das Unternehmen aus Sicherheitsgründen nicht selbst vor Ort aktiv ist. Jedoch gebe es einen Engpass: „Und das ist die Ausbildung von Technikern“, so Tim Schäfer, Regional President für Osteuropa, Naher Osten und Afrika, gegenüber dieser Redaktion. Deutlich mehr Kriegsversehrte könnten eine Prothese bekommen, wenn es mehr Techniker geben würde.

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„Nach dem Krieg ist die Anzahl an Patienten um 30 Prozent gestiegen, die Anzahl der Techniker aber auf dem gleichen Niveau geblieben“, berichtet auch Nazar Bahniuk aus eigener Erfahrung. Der 40-jährige arbeitet als Orthopädietechniker für das Krankenhaus in Lwiw, an das Ottobock den Werkstattcontainer angedockt hatte. Der genaue Bedarf an Prothesen in dem kriegsgeplagten Land lässt sich jedoch nicht beziffern. „Die Anzahl der Verletzten ist ein Geheimnis“, sagt Anatoli Tirik, Ottobock-Area Manager, unter anderen für die Ukraine. „Alle Rehazentren in der Westukraine sind voll – die nehmen keine neuen Patienten auf.“

In der Werkstatt setzt Chernysh die Prothese vom Schaft bis zum Fuß zusammen

Es ist bereits die dritte Schulung, die Ottobock für ukrainische Techniker durchführt, um sie für die eigenen Produkte zu zertifizieren. Chernysh ist einer von ihnen. Er kommt aus der ostukrainischen Stadt Sumy, wo er für einen privaten Betreiber die Patienten mit Prothesen ausstattet. „Pro Monat nehme ich bis zu 40 Patienten auf. Davon sind 45 Prozent kriegsverletzte Menschen“, so der 32-jährige Familienvater.

Maxim Chernysh (links) aus der Ukraine stellt zu Übungszwecken die Prothese von Modellanwender Jürgen Grube ein.
Maxim Chernysh (links) aus der Ukraine stellt zu Übungszwecken die Prothese von Modellanwender Jürgen Grube ein. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Als er das Bein von Modellanwender Grube vermessen hat, geht es für ihn in die Schulungswerkstatt. In einem großen Gestell, das einer Klimmzugmaschine im Fitnessstudio gleicht, setzt Chernysh alle Komponenten zusammen: Oben der Schaft – dem Bindeglied zwischen Stumpf und Prothese – dann das Kniegelenk und darunter das Verbindungsrohr mit dem künstlichen Fuß.

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Die größte Herausforderung sei die Programmierung des mikroprozessorgesteuerten Knies und die Anfertigung des Schafts, erklärt Ausbilder Frederik Thiede. „Das ist ja der Motor der Prothese, das zentrale Glied zwischen Mensch und Technologie“, bestätigt auch Schäfer. Seinen Angaben zufolge ist das der blinde Fleck bei der Versorgung der Patienten vor Ort: „Wir haben noch nicht so viele digitale Tools im Einsatz, wie wir eigentlich haben könnten“, so Schäfer. Der Schaft könne entweder händisch per Gipsabdruck vermessen werden, oder digital: „Das bedeutet, dass wir den Stumpf scannen.“ Die daraus generierte Computerdatei werde dann nach Duderstadt oder zu anderen Fertigungsstandorten geschickt, wo der Schaft dann gedruckt oder gefräst wird.

Die genaue Einstellung des Knies geschieht drahtlos per Laptop

Um aber auch die die Software eines mikroprozessorgesteuerten Knies zu durchdringen, geht es für Chernysh, Bahniuk und ihre Kollegen aus der Werkstatt wieder zurück in den Schulungsraum, wo eine Rampe, eine kleine Treppe und einige hüfthohe Barren auf die Modellanwender warten, um die perfekt Knie-Einstellung vorzunehmen.

Ein roter Laserstrahl blitzt auf Modellanwender Jiri Sucha, der vor 14 Jahren durch einen Motorradfahrer sein Bein verlor. „Damit messen wir die Kraft, die in den Boden geht“, erklärt Ausbilder Thiede, wodurch der Patient „sicher und entspannt“ stehen könne. Ein Schritt von vielen, der für die perfekte Konfiguration des Knies erforderlich ist.

In den Schulungsräumen von Ottobock konfiguriert Nazar Bahniuk (links) das Knie von Modellanwender Jiri Sucha. Dieser muss den Raum unzählige Male abschreiten, bis die Einstellung perfekt ist.
In den Schulungsräumen von Ottobock konfiguriert Nazar Bahniuk (links) das Knie von Modellanwender Jiri Sucha. Dieser muss den Raum unzählige Male abschreiten, bis die Einstellung perfekt ist. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Als nächstes muss Sucha einige Male den Raum abschreiten. Immer wieder hält er an, etwa wenn Bahniuk seinen Oberschenkelstumpf packt und beherzt mit einem Sechskantschlüssel eine Schraube in der Kniebeuge nachzieht. Der kräftige Mann wirkt dabei zielstrebig und handfest. Zimperlich geht er nicht um mit seinen Patienten. Doch der melancholische Blick seiner gletscherblauen Augen lässt erahnen, was in dem rüstigen Kerl vorgeht, wenn er über seine Heimat spricht. Die ersten zwei Monate seit Kriegsbeginn hätte er nicht gearbeitet, nur erste Hilfe hinter der Front leisten wollen, erklärt er, während er nachdenklich an seinen Fingern knetet.

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Die Einstellung des digitalen Knies ist ein aufwändiger Prozess, der einiges an Feintuning bedarf. Was von außen betrachtet wie ein nahezu perfekter Gang aussieht, muss unzählige Male nachgebessert werden. Bahniuks Laptop ist durch einen Adapter drahtlos mit der Prothese verbunden. „He is waiting for the leg“, ruft Ausbilder Robert Laermann durch den Raum und meint damit, dass wenn das gesunde Bein vorne ist, die Prothese zu spät nachzieht. Ein Problem, dass Bahniuk mit einem Klick über seinen Rechner konfigurieren kann. Sogar via Smartphone-App können die Patienten selbstständig ihr Bein entspannen.

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Durch das Kriegsgeschehen verläuft die Amputation meist nicht so sauber

Das C-Leg 4, an dem die ukrainischen Techniker ausgebildet werden, ist eines der hochwertigeren Modelle, das als individuell angepasstes Prothesensystem, mit drei Jahren Garantie zwischen 38.000 und 45.000 Euro kostet. Kosten, die laut Tirik wohl in der Ukraine das Gesundheitssystem trägt: „Jeder Veteran, der mit einem mechanischen Kniegelenk erstversorgt wird, hat als Folgeversorgung in den nächsten zwölf Monaten einen Anspruch auf ein elektronisches Kniegelenk.“ Für zivile Opfer würden Kosten für mechanische Kniegelenke übernommen werden.

Rund 1,5 Millionen Schritte läuft ein Patient pro Jahr mit seinem Gelenk. Die von Ottobock festgelegte maximale Nutzungsdauer beträgt bei mikroprozessorgesteuerten Kniegelenken wie dem C-Leg 4 sechs Jahre. In der Ukraine hätten die Patienten bereits nach vier Jahren Anspruch auf eine neue Prothese.

Nazar Bahniuk (rechts) kann per Laptob das Knie von Jiri Sucha einstellen.
Nazar Bahniuk (rechts) kann per Laptob das Knie von Jiri Sucha einstellen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Derweilen ist die Behandlung in der Ukraine sehr viel schwieriger als hierzulande mit geplanten Amputationen. „Wir haben in westlichen Ländern sehr starke Ausprägungen bei den älteren Patienten: Arterielle Verschlusskrankheiten, durch z.B. Diabetes, und das sind 80 Prozent der Patientengruppe“, so Schäfer. In der Ukraine sei dies natürlich anders: „Es kommt aus dem Geschehen heraus zum Verlust der Gliedmaßen oder zur Akutversorgung, wenn ein Bein weggerissen oder operativ entfernt werden muss.“

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In diesen Fällen müsse der Stumpf oft nachoperiert werden, damit eine Versorgung mit einer Prothese überhaupt möglich sei. Auch habe man es in der Ukraine meist mit jungen Patienten im Alter zwischen 20 und 30 Jahren zu tun, die möglichst schnell wieder mobilisiert werden müssten. „Wenn man zu lange wartet, dann nimmt die Mobilität ab, die Physis wird schwächer, es bilden sich Kontrakturen und der Patient kann nicht mehr so leicht versorgt werden“, so Schäfer. Es gebe auch Fälle, wo eine Prothese für Betroffene gar nicht infrage komme. „In der Ukraine sehen wir sehr viele Verletzungen der oberen Extremitäten. Es kommt darauf an, wie viel vom Stumpf übrig ist, man muss die Prothese ja auch ansetzen können.“

Orthopädietechniker: Eine mentale Belastung

Hier kommt die Expertise der Techniker ins Spiel, die nicht nur über die richtige Auswahl der Prothese und deren Einstellung bestimmen. Sie müssen auch mit der psychischen Belastung umgehen können, den Patienten das Gefühl vermitteln, dass es weitergeht. „Eine Behinderung zu haben bedeutet nicht, ein behindertes Leben haben zu müssen“, so Schäfer, für den zu einer Versorgung eines Kriegsopfers auch immer ein Psychotherapeut gehört. „Es ist wichtig, dass Betroffene, die in der Motivation sehr weit unten sind, sehen, dass es positive Entwicklungen gibt, dass es ein Leben danach gibt.“

Maxim Chernysh in der Übungswerkstatt. Er kommt aus dem Osten des Landes. Seine Heimatstadt Sumy stand zeitweise unter russischer Besatzung.
Maxim Chernysh in der Übungswerkstatt. Er kommt aus dem Osten des Landes. Seine Heimatstadt Sumy stand zeitweise unter russischer Besatzung. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Eine Herausforderung, der sich auch Chernysh stellen muss. „Es ist sehr schwer. Sehr viele negative Emotionen kommen von den Patienten“, sagt der Ukrainer, dessen Heimatdorf Sumy zeitweise unter russischer Besatzung war. Ein stämmiger Mann, dessen energischer Blick keinen Zweifel an seiner Tätigkeit erkennen lassen. So groß die Dramatik eines Beinverlustes auch ist, so pragmatisch scheinen Techniker wie er ans Werk zu gehen – können sie ihren Patienten doch wieder ein mobiles Leben ermöglichen. „Man muss den Patienten mit lächelndem Gesicht behandeln, aber am Abend ist man kaputt.“ In patriotischer Überzeugung, mit seiner Arbeit für die richtige Sache einzustehen, stellt er aber fest: „Am nächsten Morgen steht man aber auf und versteht: Du musst das tun, die brauchen dich.“

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