Altenburg/Schmölln. 30 Jahre Mauerfall: Daniel erlebte den 9. November 1989 hautnah in Leipzig. Heute blickt Ivy auf diesen Tag zurück.

Ivy ­Bieber sortiert schnell einige Blätter in den dicken Ordner vor ihr auf dem Schreibtisch. Sie klappt den Deckel zu und legt ihn wie ein gut verschnürtes Paket ordentlich auf die Seite. „So, geschafft“, sagt sie und blickt auf. Sie lächelt freundlich, ihre grau-grünen Augen strahlen. Sie trägt ein hellblaues T-Shirt und verwaschene Jeans. Ihr langes, dunkles Haar hat sie mit einem Gummi zusammengebunden.

Draußen gleißt die Sommersonne und hat das kleine Büro des Integrativen Zentrums Futura in der Altenburger Wallstraße längst aufgeheizt. Hier arbeitet Ivy Bieber als Koordinatorin. Sie berät Geflüchtete und Einheimische, bietet ihnen Hilfe, um im Dschungel deutscher Verwaltungsapparate Orientierung zu finden. Ruhig, immer ­geduldig, aufgeschlossen und ­offen für ihr ausgesprochen ­gemischtes Klientel.

1973 ist Ivy Bieber geboren – als Daniel. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Schmölln. 16 war er, als die friedliche Revolution in der DDR den real existierenden Sozialismus erschütterte und schließlich hinwegfegte. Und er war am Brennpunkt des Geschehens 1989 in Leipzig. Dort machte er seine erste Lehre, eine zum Maschinen- und Anlagenmonteur. Von Politik hatte Daniel damals wenig Ahnung. Mit Kumpels schlenderte er an einem Tag im März `89 durch das Zentrum der Messestadt. Aus der Nikolaikirche kamen Leute, viele mit brennenden Kerzen in den Händen. Und es geschah: Volkspolizei war plötzlich überall, sie kesselte die rund 500 Menschen vor der Kirche schnell ein. Die Polizisten trugen Schlagstöcke. Zu zweit oder zu dritt nahmen sie sich die Leute einzeln vor. Daniel war mittendrin.

Plötzlich wurde Politik sehr wichtig

Staatssicherheit? Das war bis dahin weit weg von dem Jungen, den es nach diesem Erlebnis öfter in die Leipziger Innenstadt zog. Und dort ging es auf einmal los: Reisefrei bis nach Shanghai, war eine von vielen Forderungen im Sommer `89.

Und Daniel ertappte sich dabei, gerne mal den Westen erkunden zu wollen. Vor allem dann, wenn er auf dem Gößnitzer Bahnhof stand und auf seinen Zug wartete. Dort rauschten regelmäßig auch die nach Köln und Düsseldorf durch. Gehalten hat freilich keiner, stets leuchtete die rote Lampe am Bahnsteig auf.

Unwohl hat er sich indes nie gefühlt in der DDR. Man hatte seine Sicherheiten, keine Frage. Als die Massen in Leipzig dann die Zulassung des Neuen Forums forderten, rief er mit. Er hatte keine Ahnung, was das Neue Forum war. Aber er fand gut, wenn es eine neue Partei ­geben würde.

Alles ging dann Schlag auf Schlag. Daniel saß im Wohnheim in Leipzig, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete: Die Grenzen sind offen. Ein paar Tage nach diesem 9. November 1989 brach er mit Freunden nach Hannover auf. Sein erster Weg dort führte in einen Plattenladen. Sein erster Einkauf im Westen: The Sensual World, das sechste Studioalbum der englischen Sängerin und Komponistin Kate Bush, das 1989 erschien. Er hat gekniet und war so glücklich.

Als Monate später in Schmölln und Altenburg der erste gesamtdeutsche Wahlkampf tobte, war der Rausch für Daniel vorbei. Er war völlig überfordert. Die im Vergleich zum DDR-System mit SED und Blockparteien fast überbordende BRD-Parteienlandschaft kannte er nur aus dem Unterricht.

Und jetzt war Politik wichtig. Daniel fand sich von heute auf morgen in einer neuen Welt und musste sich zurechtfinden.

Mehr und mehr ging es nur noch ums Geld. Jeder wollte seine Alu-Chips loswerden, stand Schlange, um sie gegen harte ­D-Mark einzutauschen. Schnell reichten die zehn Mark nicht mehr, mit denen er in der DDR noch gut über die Woche in Leipzig gekommen war, ­inclusive Bus- und Zugfahrten.

Für ihn war die friedliche Revolution eine super Sache, weil es um Freiheit ging. Dass dann die Menschen alles so schnell über Bord warfen, konnte er nicht mehr verstehen. Daniel bekam den Zusammenbruch der DDR sofort zu spüren. Alle in seinem Betrieb wurden sofort auf Null gesetzt und dann arbeitslos.

Er begann eine neue Ausbildung und schlug die Beamtenlaufbahn ein. Nur eine von vielen Etappen seiner Berufsbiografie in den folgenden Jahren. Wie Millionen andere Ostdeutsche hangelte auch er sich von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Er arbeitete für zwei Mark Stundenlohn im Bauhof. Er machte seinen Computerschein bei einem der Bildungsträger, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Er wurde Garten- und Landschaftsbauer. Er machte seinen Abschluss als Betriebswirt im Abendstudium. Er holte das Abitur nach. Er leitete ein ­soziokulturelles Zentrum. Und Daniel erfuhr, wie es sich anfühlt, vom Sachbearbeiter im Arbeitsamt einfach vergessen zu werden.

Darüber hinaus tat Daniel ­alles, um als echter Mann zu gelten. Er hörte Heavy Metal und zelebrierte seine Männlichkeit härter als manch‘ anderer. Er trank und gab sich wild. Bis ihm Siggi, der Wirt seiner Stammkneipe in Selka, an der Theke auf den Kopf zusagte, was und wer er ist: Eine Frau im Körper eines Mannes. Daniel war 22 Jahre alt und irgendwie erleichtert über Siggis Worte.

Die Konsequenz mit endgültigem Schritt brauchte indes bis 2013. In jenem Jahr feierte er seinen 40. Geburtstag – als Ivy. Diesen Namen wählte sie selbst. Er bedeutet Efeu und steht symbolisch unter anderem für Treue, Unsterblichkeit und das ewige Leben.

Sieben Jahre lang hat Ivy Bieber für ihre Geschlechtsanpassung gekämpft: mit mehreren Gutachten und vor Gericht. Am Ende erfolgreich. In München wurde sie operiert, den 22. April feiert sie als zweiten Geburtstag. „Ohne die Wende wäre das nicht möglich gewesen. Das jetzige System hat mir die Chance gegeben, ich zu sein“, sagt sie nüchtern. In der DDR wäre das nie möglich gewesen. Dass man das darf, dass es möglich ist, dass man dafür kämpfen kann.

Was, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? „Es würde mich nicht mehr geben“, ist Ivy Bieber überzeugt. „Vielleicht wäre ich ein Lehrer geworden. Aber als Mann?“ Nein, beantwortet sie sich selbst diese Frage, das wäre nicht gut gegangen.

Informationen und Erfahrungen weitergeben

Klar, Menschen wie Ivy werden doof behandelt. Alle zwei, drei Tage wird sie ausgelacht, angegafft oder ganz offen angepöbelt. Übrigens noch nie von Ausländern. „Aber all das ist immer noch besser als das andere“, sagt sie. Sie definiert sich als Transident: ein natürliches Phänomen, bei dem die Geschlechtsidentität vom Zuweisungs­geschlecht abweicht.

Ein Phänomen, bei dem der Mensch schon in sehr jungen Jahren leidet, wenn nichts unternommen wird. Sie weiß, wie das ist, weil sie litt. Und sie will verhindern, dass es anderen Kindern und Jugendlichen geht wie ihr. „Ich kann meine Informationen, meine Erfahrungen weitergeben. Kann Wege aufzeigen.“ Ihr geht es dabei um Akzeptanz und ums Verstehen, dass es mehr gibt als nur die Definition von Mann und Frau. Freilich, ihr fehlt ein ganzes Stück Entwicklung als Frau. Zu der wurde sie erst mit 40 Jahren auch körperlich.

„Ich muss nehmen, was ich bin und ich versuche, das Beste daraus zu machen.“ Sie ist, was sie ist und sie ist da reingewachsen. Heute muss sie sich nicht mehr hinter Schminke verstecken. Sie muss nicht mehr jedem erzählen, was sie durchgemacht hat auf ihrem Weg zu sich selbst. Denn: „Das wichtigste Geschlechtsorgan sitzt immer noch zwischen den Ohren.“

Wie sieht das ideale Gesellschaftssystem für Ivy Bieber aus? „In dem haben wir Verständnis für andere. Es wird nicht sofort geurteilt, sondern vorher einfach mal gefragt. Wozu braucht es Feindbilder?“

Wir sammeln Ihre Geschichten

30 Jahre Mauerfall – OTZ Schmöllner Nachrichten ­begleitet dieses Datum das gesamte Jahr über mit einer Serie.

Und wir wollen damit auch Geschichten sammeln, die Sie, liebe Leser, mit dem 9. November 1989 verbinden. Gern halten wir Rückschau. Doch noch viel lieber wollen wir erfahren, was dieses Datum für Sie bedeutet. Wie veränderte dieser Tag Ihr Leben? Unterbrach er Ihre Biografie, brach er sie gar? Oder fanden Sie das Glück Ihres Lebens?

All das wollen wir von Ihnen erfahren, um den Mauerfall 1989 ins Heute zu holen. Wir laden Sie deshalb ein, dabei zu sein, Sie erreichen uns unter: schmoelln@otz.de