Hermsdorf. Saale-Holzland: Keine Ahnung von Fahrrädern und trotzdem 10.000 Kilometer fest im Sattel. Was die Schriftstellerin Rebecca Maria Salentin mit ihrem Drahtesel erlebte.

Ihre Expertise endet beim Abschrauben einer Ventilklappe. Dennoch stellt sich Rebecca Maria Salentin einer der größten Herausforderungen des europäischen Radwegenetzes: Sie möchte den knapp 10.000 Kilometer langen Iron Curtain Trail bezwingen, der von der bulgarisch-türkischen Grenze quer durch Europa bis nach Lappland führt, immer entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Vor ihr liegen unpassierbar erscheinende Berge, einsame Wälder, Grenzübergänge, malerische Orte und immer wieder das Meer.

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Die Autorin und Abenteuerin ist heute Abend im Hermsdorfer Gespräch zu Gast, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und dem Freundeskreis Hermsdorfer Gespräch. Für ein Telefoninterview erreichten wir die Schriftstellerin im Zug auf dem Weg zu einer Lesung.

Frau Salentin, Sie starteten in Unkenntnis der Anatomie eines Fahrrades. Was haben Sie inzwischen darüber gelernt?

Es stimmt, ich habe nicht einmal gewusst, wie ich einen Platten beheben könnte. Jetzt kenne ich immerhin Mantelheber, Kettenpeitsche und Kassettenabzieher.

Respekt. Wie kamen Sie darauf, 10.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch den ehemaligen Ostblock zu fahren?

Ich wollte die Ostsee umrunden und stieß zufällig auf den Trail. Von der Tatsache, dass man entlang des Eisernen Vorhanges radeln kann, war ich sofort angetan. 1946 haben meine Großeltern auf der Flucht aus dem Sudetenland den gleichen Weg passiert. Das hat mir wohl die nötige Kraft gegeben.

Kraft brauchten Sie in der Tat. Nicht nur mental?

(Lacht). Ich hatte keine zertifizierten Wege wie in Deutschland erwartet. Aber mit der teilweise unterirdischen Beschaffenheit des Trails hatte ich auch nicht gerechnet. Manchmal musste ich Fahrrad und Gepäck über Sand, steinige Ziegenwege und Sumpfgebiet tragen.

Vom Schreibtisch auf den Drahtesel: Autorin Salentin wird in Hermsdorf ihre Reise Revue passieren lassen. 
Vom Schreibtisch auf den Drahtesel: Autorin Salentin wird in Hermsdorf ihre Reise Revue passieren lassen.  © Rebecca Salentin | Rebecca Salentin

Kein Wunder, dass der Weg nicht ausgetreten ist. Vor Ihnen kam dort kaum jemand vorbei.

Das wusste ich vorher nicht. Ich forderte alles von mir, weil ich dachte: Ist der Weg zu stark, bist du zu schwach. Spätere Recherchen ergaben, dass vor mir wohl nur ein Brite den gesamten Weg an einem Stück zurückgelegt hat. Demnach wäre ich die erste Frau mit dieser Leistung.

Dafür gebührt Ihnen Hochachtung. Welche Relikte der alten Sowjetmacht haben Sie aufgestöbert?

Es existieren noch etliche alte Wachtürme, Zaun- und Mauerreste. Ich traf auf sowjetische Geheimstädte, die in keiner Karte verzeichnet waren, weil sie Atomwaffen bargen oder dort Feinde abgehört wurden. Ich kam auch durch geschleifte Dörfer. Von vielen Gehöften standen nur noch die Grundmauern. Das war ein trauriger Anblick.

Es gab doch bestimmt auch lustige Begebenheiten?

(Lacht). Ja, die gab es. Kurz vor der Grenze zu Nordmazedonien wusste ich nicht, wo ich mein Zelt aufbauen sollte. Bewohner empfahlen mir einen Platz neben der leerstehenden Schule. Kaum hatte ich mich dort niedergelassen, kam alle halbe Stunde jemand vorbei, um mir beim Zeltaufbau zu helfen oder Essen und Getränke hinzustellen. Am nächsten Morgen brachte mir der örtliche Frauenchor ein Ständchen.

Diese Geschichte gehört in ein Reisetagebuch.

Zum Schreiben habe ich nie etwas dabei. Was ich erlebe, erzähle ich meinen Lieben daheim in einer Whatsapp-Gruppe. Das ist auch eine Art Tagebuch, aber ich bin nie allein. Sie geben mir Tipps und unterstützen mich.

Ihr nächstes Projekt?

Ich bin ja Romanschriftstellerin und werde mich deshalb meinem nächsten Buch widmen. Außerdem habe ich eine sechsmonatige Genusstour geplant. Ohne Ziel, ohne Anspruch – allein für die Seele. Die größte Lektion, die ich auf meiner weiten Reise gelernt habe, ist: Man muss nicht immer den schwierigen Weg gehen, manchmal tut es auch der einfache.

Der Weg führt Sie nun nach Hermsdorf, wo Sie Wiederholungstäterin sind. Was darf Ihr Publikum erwarten?

Die Stadt habe ich in allerbester, schöner Erinnerung. Es wird ein bunter Abend. Ich zeige Bilder, trage Erlebnisse vor und lese aus meinem Buch „Iron Woman“. Auf Wunsch werde ich Bücher gern signieren.

Kurze Vita:

Rebecca Maria Salentins Start hätte besser sein können: Ihren Vater lernt sie nie kennen, mit 21 Jahren erzieht sie allein zwei Kinder. Als ihre Psychologin sagt: Mit dir ist alles in Ordnung, aber dein Umfeld (kleines Dorf in der Eifel) stimmt nicht, beschließt Salentin, in Leipzig neu anzufangen. Dort schreibt sie Bücher und eröffnet ein Café im Zirkuswagen. Dann ist der Partner weg und mit ihm die Wohnung. Salentin muss sich ihren Boden unter den Füßen wieder erkämpfen, Urvertrauen zurückgewinnen. „Ich kann mit wenig auskommen und habe es doch immer schön“, sagt sie, die meist durchzieht, was sie sich in den Kopf setzt. Ihre Literaturshow „Die schlecht gemalte Deutschlandflagge“ wurde eingestellt, seitdem begibt sie sich monatelang auf Wanderschaft – sowohl mit Rad als auch zu Fuß. Auf den Iron Curtain Trail begab sie sich nach eigenen Angaben, ohne Ahnung von Fahrrädern zu haben und mit schlechter körperlicher Fitness. Salentin ist Romanautorin. Sie schrieb unter anderem „Im Himmel gibt’s kein Bier“ und „Schuld war Elvis“.

Termin: 21. März, 19 Uhr, Stadtbibliothek Hermsdorf, Lesung und Gespräch mit Rebecca Maria Salentin über ihr Buch „Iron Woman“. Der Eintritt ist frei.