Saalfeld. Paarweise gegen die Einsamkeit: Im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt lassen sich Menschen beim Verein „Herbstzeitlose“ zu Seniorenbegleiter ausbilden.

Sie blühen, wenn fast alle anderen Wildblumen schon ermattet sind, strahlen in Blassrosa bis Violett, wenn das Leben ringsum ins Graue dämmert – die Herbstzeitlosen. Zur Ordnung der Lilienartigen zählend und extrem ausdauernd. In Saalfeld und in Rudolstadt, in Leutenberg, Königsee und anderswo im Landkreis aber sind die Herbstzeitlosen Menschen, die anderen helfen. Sie begleiten beim Einkaufen, zum Arzt, auf Ämtern. Mit ihnen Kultur genießen, Karten spielen. Vom Leben draußen erzählen, weil der andere altersbedingt ein Zu-Hause-Mensch geworden ist. Oder einfach nur zuhören, wenn da so viel Leben ist oder war, dass es nach Erzählung, nach Gehörtwerden drängt wie nach Luft.

Sie sind ehrenamtliche Seniorenbegleiterinnen, 155 aktive derzeit und viel zu wenige Männer, wie Christa Pidun beklagt: „Wenn’s mit dem Rollstuhl über Kanten geht, wären ein paar kräftige Hände nicht schlecht.“

Josef Hinke aus Saalfeld und seine Seniorenbegleiterin Sieglinde Weise begegneten sich erstmals zu Hinkes 95. Geburtstag und blieben bis zu seinem Tod mit 104 Jahren als Freunde verbunden.
Josef Hinke aus Saalfeld und seine Seniorenbegleiterin Sieglinde Weise begegneten sich erstmals zu Hinkes 95. Geburtstag und blieben bis zu seinem Tod mit 104 Jahren als Freunde verbunden. © Herbstzeitlose

Pidun ist ausgebildete Seniortrainerin, ehrenamtliche Projektleiterin, Ausbildungschefin und Einsatzkoordinatorin bei den Herbstzeitlosen, seit Jahren ihr Gesicht und ihre Stimme. Sie hat das Projekt erfunden, Partner gesucht, mit der damaligen Seniorenbüro-Chefin Alexandra Graul die Idee umgesetzt. Knapp über 60 und gerade in Rente war die vormalige Holzfachmarkt-Leiterin Pidun 2003, als in ihrem Kopf das Projekt Seniorenbegleitung Gestalt annahm. „Ich war ja noch fit, wollte aktiv bleiben“, erinnert sie sich. Und sie wusste: Es gibt Menschen, die bleiben ungewollt allein auf ihren letzten Etappen. Ihnen zu helfen, würde schon ein Bei-Ihnen-Sein reichen. Oder auch ein bisschen mehr.

Der Punkt, da man sich überfordert fühlt beim Kümmern um einen Angehörigen. Das Gefühl, nicht genug zu leisten. Die Scham, vielleicht zu schroff reagiert zu haben. Die meisten derer, die sich zum Seniorenbegleiter ausbilden und hernach vermitteln lassen, sind aus einer persönlichen Erfahrung geprägt. Wie Ute Blochberger aus Reschwitz, die die Schwiegereltern pflegte und vor neun Jahren zu den Herbstzeitlosen stieß. Oder Angelika Horvath aus Saalfeld: Sie musste erleben, wie ihre pflegebedürftige Mutter sich jeder Betreuung durch männliche Fachkräfte verweigerte, bis eine Freiwillige der Herbstzeitlosen quasi als Vermittlerin akzeptiert wurde.

Es gibt viele Auslöser, sich dieser Aufgabe stellen zu wollen. Da ist die ehemalige Lehrerin, die auf möglicherweise mehr oder doch andere Erfüllung hofft als ihr vordem im Schulalltag vergönnt war. Oder die Frau aus einem kleinen Ort im Rinnetal, die gesundheitlich ihren alten Beruf nicht mehr ausüben konnte und mit dem Seniorenbegleiter-Kurs auf eine Art Übergang in eine bezahlte Pflegetätigkeit setzt.

Wer sich der Ausbildung stellt, hat Anstrengung vor sich. 16 Nachmittage mit 21 Seminaren und 60 Unterrichtsstunden sind durchzustehen, man hat sich mit Psychologie, Demenz und Wohnformen im Alter zu beschäftigen, auch mit Lust und Sucht von Senioren, deren Spiritualität, Bewegungsmöglichkeiten, Medikamentierung. Auch mit dem Abwägen der eigenen Stärke, um für den anderen stark zu sein.

Zur inzwischen guten Tradition bei den Herbstzeitlosen gehören auch die Busreisen, die die Seniorenbegleiterinnen und Projektmitarbeiter gemeinsam unternehmen, hier beim letztjährigen Ausflug ins Erzgebirge.
Zur inzwischen guten Tradition bei den Herbstzeitlosen gehören auch die Busreisen, die die Seniorenbegleiterinnen und Projektmitarbeiter gemeinsam unternehmen, hier beim letztjährigen Ausflug ins Erzgebirge. © Herbstzeitlose

Vor allem aber, so Pidun, heißt Begleitung, da zu sein, zuhören, zuwenden, auch zureden. Im vermeintlich verstörten Alten immer den ganzen Menschen zu sehen, mit seiner Vergangenheit, seiner Einzigartigkeit. Seniorenbegleitung, das sei nicht einspurige, gar gönnerhafte Hilfe. Zuwendung für andere ist auch die Versicherung unserer selbst, betont sie gern. Wir machen keine Pflege, wir sind keine Haushaltshilfe, stellt Pidun klar, aber wir sind da und entlasten Angehörige, die eine Pause brauchen.

Über 700 Menschen haben die Herbstzeitlosen seit ihrer Gründung begleitet; nicht einmal eine Hand voll machen jene Fälle aus, da die Beziehung vorzeitig beendet wurde. Meist, weil die Kinder der Betagten sich an irgendwas bei den Begleitern störten.

Oft wüchsen langjährige Beziehungen, sogar Freundschaften. Wie zwischen Josef Hinke aus Saalfeld und Begleiterin Sieglinde Weise. „Die lernten sich an seinem 95. Geburtstag kennen und waren sofort beieinander, bis er mit 104 Jahren starb“, erinnert sich Annerose Chyzy, die zur Projektleitung gehört.

Der aktuelle, wegen Corona vorerst ausgesetzte Kurs hat auch drei Männer um die 80 als Teilnehmer. Ist das nicht doch ein wenig zu alt? Nein, findet die Chefin, wichtiger seien Lust, Wille und eben auch Lebenserfahrung. Und sie selbst denkt ja mit 81 auch nicht ans Aufhören.

Die Herbstzeitlosen in Zahlen:

Der erste Lehrgang zur Ausbildung von Seniorenbegleiterinnen in Saalfeld startete 2004 mit 13 Teilnehmerinnen. Insgesamt wurden bislang 17 Kurse mit 254 Teilnehmern durchgeführt. Der diesjährige 18. Lehrgang mit 16 Teilnehmern musste wegen Corona zunächst abgebrochen werden.

Gegenwärtig sind 145 Seniorenbegleiterinnen und -begleiter im unbefristeten Einsatz bei 155 hilfebedürftigen Menschen; rund 760 betreute man insgesamt seit Start des Projekts. Mit Beginn der Corona-Einschränkungen musste auf regelmäßige „Telefonbesuche“ umgestellt werden. Einige kaufen aber auch für ihre Begleiteten ein. Fünf Seniorenbegleiterinnen schneidern Mund-Nase-Masken, damit alle Paare möglichst bald mit minimiertem Risiko wieder zusammenkommen können. Zudem sind neun Seniorenbegleiterinnen in Selbsthilfegruppen tätig. Sie wirken damit zugleich als Multiplikatorinnen. Fünf Seniorenbegleiter haben Vorsorgevollmachten oder auch amtliche Betreuungen übernommen.

Das Projekt ist Leistungsträger der Pflegekassen für niedrigschwellige Betreuungsangebote bei vorhandenem Pflegegrad.

Das Projekt hat an zahlreichen Wettbewerben erfolgreich teilgenommen. Unter anderem können die Herbstzeitlosen auf den Thüringer Altenhilfepreis 2007, den Familienpreis (2014) und den Zukunftspreis (2018) des Freistaats verweisen. Beim Deutschen
Engagementpreis kamen sie unter rund 800 angemeldeten Projekten auf Platz 116.