Der erste Besuch in einem westdeutschen Kaufhaus überwältigte die Familie von Christine Stollberg aus Saalfeld

Das Gefühl, das sie nach dem Betreten eines Kaufhauses im fränkischen Kronach empfand, kann Christine Stollberg aus Saalfeld heute, 30 Jahre später, noch sofort abrufen: „Völlig erschlagen. Als hätten wir den ganzen Tag Sehenswürdigkeiten besichtigt.“

Dabei ließen es die heute 64-Jährige, die damals an der Spezialoberschule für Russisch in Wickersdorf unterrichtete, und ihre Familie bei ihrem ersten Besuch im Westen betont ruhig angehen.

Um nicht von Eindrücken überflutet zu werden, holten sie sich im Dezember 1989 nur ihr Begrüßungsgeld ab und spazierten dann ins nahe gelegene Kaufhaus. Doch die dort ausgestellte Warenwelt war einfach zu viel: Tochter Anja, damals 9, und Sohn Matthias (4) verkrümelten sich lieber in die Videoecke, wo ein Kinderfilm lief – und auch Christine Stollberg, Ehemann Bernhard und Oma Ruth Metz fühlten sich wie erschlagen von all der Pracht und Fülle. „Anja wünschte sich ganz bescheiden nur ein Hubba Bubba“, erinnert sich die Saalfelderin, die gar nicht wusste, dass es sich dabei um Kaugummi handelt. Und für den Sohn habe sie schließlich ein Matchbox-Auto erworben.

Sie selbst legte einen Teil ihres Westgeldes – das nahe Weihnachtsfest einerseits und die leeren Regale daheim andererseits vor Augen – in grünen Gurken an. „Eine Mark das Stück“, erzählt sie lachend. Dabei habe es die Familie bei ihrem ersten Ausflug in den Westen aber bewenden lassen.

Eingeprägt hat sich Christine Stollberg jedoch noch eine weitere Szene dieses Tages: Auf der Rückfahrt nach Wickersdorf blieb der Familien-Trabi bei Schneeglätte am Berg hängen. Die beiden Frauen mussten aussteigen, um zu schieben – Oma Ruth konnte dies indes nur einhändig tun. In der anderen Hand hielt sie die Thermoskanne umklammert, die sie vorsorglich mit Kaffee gefüllt hatte. Kostbares Westgeld für Verpflegung ausgeben? Das kam für eine sparsame Frau wie sie gar nicht infrage. Weil Bayern DDR-Bürgern noch ein zweites Mal Begrüßungsgeld auszahlte – immerhin 40 Mark pro Nase –, reiste Christine Stollberg wenig später mit Mutter und Kindern erneut nach Kronach. Diesmal nahmen sie einen der Sonderzüge, die die Bahn eingesetzt hatte, um des riesigen Ansturms Herr zu werden. Mit dem Zug reiste die Familie aber nicht nur, weil sich Christine Stollberg damals längere Fahrten mit dem Auto noch nicht zutraute: „Die Straßen waren auch voll von Autos aus der ganzen DDR, weil alle wegen der 40 Mark nach Bayern wollten.“ Und da die meisten vor der Grenze noch einmal tanken wollten, sei der Andrang an den Tankstellen in und um Saalfeld in diesen Wochen enorm gewesen. „Als Einheimischer konnte man da eigentlich nur noch frühmorgens oder abends hin“, erinnert sich Christine Stollberg.

Wenn sie an die Zeit vor 30 Jahren denkt, ist ihr aber auch noch gegenwärtig, wie sich die Ereignisse damals überschlugen: „Im Grunde musste man jeden Tag zwei Stunden vor dem Fernseher sitzen. Schließlich konnte der Runde Tisch immer von jetzt auf gleich etwas ganz Wichtiges beschließen. Und das wollte man doch auf keinen Fall verpassen.“