Ettersburg. Schriftsteller Simon Strauß spricht bei der Buchpremiere in Ettersburg über Entzündung und Empfindung in Rom.

Früh am Morgen reißt sich der Erzähler die Kanüle vom Arm, verlässt das römische Krankenhaus, springt ins Taxi und flieht die Stadt. An der Ampel hoffen Feuerjongleure vergebens auf Entlohnung. Das Taxi fährt weiter, ein Straßenjunge schleudert ihm wütend eine Fackel hinterher: „Und weil es schon wieder so heiß war, fingen die Scheibenwischer Feuer, und so fuhren wir brennend weiter ans Meer.“

So können sie aussehen: „Römische Tage“, wie sie Simon Strauß zwischen Dichtung und Wahrheit erlebt und aufschreibt, als er 2018 einen Sommer in der Ewigen Stadt verbringt – untergebracht in der Casa di Goethe. Da ist die hitzige Debatte um sein literarisches Erstlingswerk „Sieben Nächte“ gerade abgeebbt.

Das war das Porträt eines jungen Mannes als Lebensmüder: „Was Gefahr heißt, habe ich nie gespürt.“ Ein Streber, der brav mit dem Strom schwimmt, dafür sein Herz verrät und sich einredet, „für Widerworte sei später immer noch Zeit. Und nach Rom würde ich fahren, wenn das Wetter schöner wird.“

Vorerst aber schließt er einen teuflischen Pakt, der Rettung dadurch verspricht, sich in den sieben Todsünden zu versuchen und sich dadurch endlich lebendig zu fühlen.

Schon Goethe erlebte in Rom alte Gedanken fast wie neue

Eine derartige Romantik leiste, mit Männlichkeitskult gepaart, der neuen Rechten Vorschub, hieß es daraufhin; sie führe gleichsam in Ernst Jüngers Stahlgewitter, weil sich der junge Mann ja auch „nach Gesinnungsfronten in Fragen der Moral“ und dem „Sprung in die Schützengräben des Geistes“ sehnte. Strauß suchte, sich an der Dialektik der Aufklärung fortschreibend abarbeitend, nach Feuer im Herzen, Teile der Kritik antworteten herzlich mit: „Feuer frei!“

Es ist nun, bestätigt Strauß, „irgendwie derselbe Erzähler, dasselbe Alter Ego“, der mit krankem Herzen in Rom Heilung sucht. Er beschreibt den Umschlag einer Entzündung: von der Wunde zur Glut. „Entzündung hat ja immer auch mit Empfindung zu tun“, sagt Strauß auf Schloss Ettersburg. Dort fand am Sonntag die deutsche Buchpremiere statt, nachdem der Autor in Rom und Florenz aus „Römische Tage“ las, die am Samstag, 22. Juni, erscheinen. (Der Berichterstatter dieser Zeitung begleitete den Auftritt moderierend.)

Simon Strauß (30), Sohn des Dramatikers Botho Strauß, der dessen Werk „nicht gut genug“ kennt, ist „antik geschult“. Der studierte und promovierte Altertumswissenschaftler – sowie Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen – erlebte seine „Bewusstseinswerdung als Intellektueller am alten Rom entlang.“ Die Entwicklung eines republikanischen Bewusstseins und der Bürgerlichkeit sind ihm Stichworte dafür.

Im Kapitel über Müßiggang glimmt, in der dritten der „Sieben Nächte“, das alte Rom als mögliches Vorbild unserer Zeit auf: im „verglühten Lagerfeuer“ alias Fernseher.

Nun heißt es, Rom im Hier und Jetzt aus der Nähe zu betrachten. Strauß wurde „frei, mich von der Stadt überwältigen zu lassen“. Er geht den Schritt aus der Nacht in den Tag sowie, so der Autor, „vom Ich zum Wir“. Hin zum Porträt eines jungen Mannes als Lebenskünstler.

Der heilende Charakter der Sphäre der Kultur

In Rom erlebt, beobachtet und erfindet sein Alter Ego die unterschiedlichsten Begegnungen und Geschichten, die sich allesamt in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen abspielen. Und es ist ja nicht neu, über Rom zu schreiben. Das weiß Simon Strauß. Also will er im Grunde auch gar nichts Neues schreiben.

Als Rom-Novize gibt er sich bewusst naiv der „Wiederholungsverführung“ hin. Da glaubt er sich unter anderem mit Goethe einig, der in seiner Lesebiografie bis dato „keine große Rolle“ spielte. Der habe ja die größten Fußstapfen auf den immer schon ausgetreten Pfaden der Stadt hinterlassen. „Ich habe hier in Rom“, zitiert sein Erzähler den Alten, „keinen ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden, aber die alten sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden, dass sie für neu gelten können.“

Solche Wiederbegegnungen, die zugleich aber Erstbegegnungen sind, durchziehen das Buch: von Cäsar bis Pasolini, von John Keats bis Ingeborg Bachmann. Es ist, als rüste sich hier einer für die Zukunft, indem er sich ins Verhältnis zur Vergangenheit setzt, zu lauter Vergangenheiten.

Simon Strauß bestätigt diesen Eindruck sofort. „In Rom stellen sich die Zeiten permanent gegenseitig infrage.“ Man erlebe gerade dort „Gegenwart und Vergangenheit gleichberechtigt im kulturellen Kosmos.“

Was einst geschah in der Kunst, heißt das, ist nicht vergangen. Es lebt fort, dauert an, so wie Religion und Philosophie. „Das ist ganz zentral ahistorisch zu fassen“, sagt der Historiker und erlebt ein Faszinosum: „Man kann über die Gegenwart sprechen, indem man sich diesen andauernden Instanzen nähert und versucht, sie literarisch einzufangen.“

Das ließe sich als progressiver Kulturkonservatismus des Sowohl-als-auch beschreiben: Tradition und Fortschritt, Glaube und Zweifel, Spruch und Widerspruch. In diesem Spannungsfeld müsste demnach „das gemeinsame Moment eines Gründungsaktes“ nachgeholt werden, der Europa laut Strauß fehlt.

„Es hat einen verbindenden und heilenden Charakter, wenn man sich in der Sphäre der Kultur bewegt“, so der Autor in Ettersburg (wo eine solche Sphäre ja entstanden ist). „Politik und Ökonomie bedeuten demgegenüber vergleichsweise wenig.“

Europa ist demnach mehr als die Europäische Union – und mehr als die Römischen Verträge, die ein Meilenstein auf dem Weg dorthin waren. Strauß hat seine eigenen, neuen Verträge in und mit Rom gemacht. Dort traf er „wunderbare, kraftvolle und kreative Menschen, die auf jeden Fall etwas haben, was wir nicht haben: sich in der Krise als Dauerzustand die Schönheit zu bewahren.“

Darin liege gewiss „eine Idealisierung.“ Distanz aber auch: im Buch inkarniert in einer verführenden Italienerin, die sich lieben, aber partout nicht küssen lässt. So steht auch sie für das Gefühl, von dem Strauß in Ettersburg berichtet: „dass etwas mehr Bedeutung hat, als das eigene Ich: Geschichte. Schönheit. Krise.“

Pfingstfestival: Finale geschafft, Epilog folgt

Mit dem Album „Sunrise“ kehrte die schwedische Folk-Musikerin Sophie Zelmani nebst Band am Sonntag nach Ettersburg zurück. Das gepflegte Clubkonzert begleitete in den Sonnenuntergang und war auch der „Sundowner“ des neunten Pfingstfestivals. Fast vierzig Veranstaltungen stemmte das kleine Team um Peter Krause in elf Wochen, 5000 Karten für den exklusiven Ort wurden verkauft.

Doch war der finale Dreiklang mit dem israelischen Pianisten Itai Navon, Schriftsteller Simon Strauß und Zelmani nicht das Ende. Ein doppelter Epilog folgt am kommenden Sonntag, 23. Juni: Unter dem Titel „Es vergeht, um wiederzukehren“ liest Rüdiger Safranski um 16 Uhr aus seiner unveröffentlichten Friedrich-Hölderlin-Biografie. Der „Lyrische Salon“ vereint um 20 Uhr Sprecher Christian Brückner, Mezzosopranistin Theresa Kronthaler und Pianist Daniel Heide unterm Motto „Das Geheime Deutschland“. Texte von Stefan George, Karl Wolfskehl, Ernst Kantorowicz, Friedrich Gundolf, Max Kommerell oder Claus von Stauffenberg treffen auf George-Lieder von Schönberg und Webern.

Karten: (03643) 7428420