Axel Lukacsek über den schmalen Grat zwischen schlank und krank.

Christy Henrich wollte ganz nach oben. Die Kunstturnerin aus den USA landete bei der Weltmeisterschaft 1989 in Stuttgart auf dem vierten Platz. Als sie auf den großen Durchbruch hoffen durfte, schleuderte ihr ein Kampfrichter einen widerlichen Satz ins Gesicht. Sie sei zu fett und müsse abnehmen. Henrich stürzte in die Magersucht, wog fünf Jahre später gerade mal 21 Kilogramm – und starb. Sie wurde nur 22 Jahre.

Nun hat vor ein paar Wochen Peter Schlickenrieder bei der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf den Finger in jene Wunde des Leistungssports gelegt, über die meist lieber geschwiegen wird. Als die norwegische Olympiasiegerin Therese Johaug im Zehn-Kilometer-Rennen mit einem Vorsprung von fast einer Minute die Konkurrenz in Grund und Boden lief, war der Langlauf-Bundestrainer sprachlos. „Ich habe keine Erklärung. Das Einzige, was ich definitiv einführen würde, wäre so ein BMI“, sagte er über den Body-Mass-Index (BMI), der aus Körpergröße und Gewicht berechnet wird.

Längst ist bekannt, dass der Hang zur Magersucht nicht nur beim Turnen oder Eiskunstlaufen zu beobachten ist. „Wir haben ein paar sehr schlanke Athleten im Spiel. Ich meine, eine Tendenz zu erkennen“, sagte Schlickenrieder. Johaug, dünn wie eine Bohnenstange, soll bei ihren 1,62 Meter angeblich gerade einmal 46 Kilogramm wiegen.

Tatsächlich sind sogar schon die nationalen Verbände eingeschritten. Landsfrau Ingvild Flugstad Östberg und die schwedische Staffel-Weltmeisterin Frida Karlsson wurden mit internen Schutzsperren für Wettkämpfe belegt. Offiziell lautete die Begründung, dass nicht alle Anforderungen des Gesundheitstests erfüllt wurden.

Es gibt aber auch Sportarten, da sind ein paar Kilo auf den Rippen eher förderlich. Wie bei Gauthier Mvumbi. Die Medien bezeichneten den Handballer mal als den Koloss aus dem Kongo oder als Bulldozer. Er selbst nennt sich „El Gigante“. In Frankreich spielt er beim Viertligisten Dreux AC. Bei der Weltmeisterschaft im Januar in Ägypten konnte man den 26 Jahre alten Kreisläufer mit seinen geschätzten 137 Kilogramm – verteilt auf eine Körpergröße von 1,92 Meter – nicht übersehen. Mvumbi war kaum zu stoppen. In seinen vier WM-Einsätzen kam er auf 20 Tore bei einer stattlichen Wurfquote von guten 87 Prozent. Selbst gegen den späteren Weltmeister Dänemark traf er viermal.

Tatsächlich aber kann der Kampf um jedes Kilo zu einem lebensgefährlichen Problem werden. Nicht nur im Turnen oder Skilanglauf. Wenn man es freundlich beschreiben will, geht es um Gewichtsoptimierung. Aber das Thema Essstörung und Leistungssport wird gerne unter den Teppich gekehrt. Immerhin gibt es seit 2018 an der Universität Tübingen eine Anlaufstelle, wo sich deutsche Kaderathleten – zumeist sind es Frauen – beraten lassen können. Aber es betrifft auch Männer. Im Skispringen sind viele Sportler so dünn wie ein Bleistift. Der geflügelte Spruch der Szene: Leicht fliegt weit. Noch leichter fliegt weiter.

Eine Horrorgeschichte erzählt der frühere Weltklasse-Skispringer Janne Ahonen in seinem Buch „Königsadler“. Er schildert, wie er in drei Wochen sieben Kilo abnahm, um konkurrenzfähig zu sein. Seine Rechnung lautete: Täglich höchstens 200 Kalorien zu sich nehmen. Sein Menü? Nun ja. Nichts für Genießer. Am Morgen Müsli mit fettfreiem Joghurt. Mittags? Nichts! Zum Abendbrot wieder Müsli. Es kam aber auch vor, dass ihm lediglich Tabletten serviert wurden, um den Fettstoffwechsel anzukurbeln. Ahonen rauchte zudem, weil dies das Hungergefühl verringerte.

Der Schweizer Skispringer Stephan Zünd machte seinen Schlankheitswahn nach dem Karriereende im Jahr 1996 öffentlich. Als er aufhörte, wog er bei seinen 1,81 Meter nur noch 60 Kilogramm. Immerhin: Seine Kritik befeuerte damals die Diskussionen, wie die Skispringer besser vor sich selbst geschützt werden können.

Inzwischen existiert ein Body-Mass-Index von 20,5 als verbindlicher Wert. Der Verband war zum Handeln gezwungen. Der Grat zwischen schlank und krank war einfach zu schmal geworden.