Dirk Pille spürt die Aura des Ballzauberers – auch nach seinem Tod

Ich bin sicher, wenn es den Himmel wirklich gibt, dann streichelt Maradona dort Bälle. Jeden Nachmittag auf Wolke 11 zusammen mit Cruyff, Eusebio, Di Stefano, Puskas, Garrincha oder George Best. Pele – inzwischen 80 – hat sich auch schon für die göttliche Weltauswahl vormerken lassen. Aber mein Größter aller Zeiten lebt ja noch.

Pele habe ich nie leibhaftig spielen gesehen. Maradona hingegen schon. 26. Oktober 1988 in Leipzig, Uefa-Cup 2. Runde, 1. FC Lok Leipzig kontra SSC Neapel. Offizielle Zuschauerzahl 80.100. In Wirklichkeit drängten sich wohl 100.000 Fans auf den Traversen. Matthias Zimmerling macht das 1:0 in der 69. Minute für Lok. Doch Francini gleicht vier Minuten später aus. Im Rückspiel unterliegt Leipzig 0:2. Übrigens ohne Zimmerling, von dem die Stasi glaubte, er würde abhauen. So erlebte das Stürmertalent den Göttlichen nur einmal. So wie ich.

Die Neapel-Auslosung hatte auf unserer Studentenbude das Maradona-Fieber ausgelöst. Seit vier Jahren waren Thomas vom „Freien Wort", Fotografin Heike vom „Volk“ und ich von den Thüringer Neuesten Nachrichten als Berichterstatter Stammgast in den mitteldeutschen Stadien, wenn es um WM-Qualifikation oder Europacup ging. Wir lernten den Beruf quasi gleich in der Champions League. Unsere Thüringer Zeitungen hatten Vertrauen und waren froh, dass sie nicht die Einheitsberichte vom Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) abdrucken mussten. Platini, Giresse, Laudrup, Lerby oder Funkel hatten wir schon live erlebt. Nun kam sie – die Hand Gottes – Diego Armando Maradona!

Wir wollten ein Interview, nur ein paar Fragen. Wir organisierten eine Spanisch sprechende Studentin. Am Tag vor dem Spiel gingen wir ins bewachte Interhotel Merkur, wo Napoli nächtigte. Man gewährte uns Einlass mit unseren DDR-Presseausweisen. Wir hätten einen Termin mit SSC-Verantwortlichen logen wir. Wir würden warten auf Signore ... – mein Kollege nannte irgendeinen einen italienischen Namen. In der Lobby saßen auffällig viele Herren und lasen Zeitung. Wir beobachteten und wir wurden beobachtet. Unsere Hoffnung war, dass sich die Fahrstuhltür öffnen und Maradona heraustreten würde. Nach zwei Stunden gaben wir auf. Ein exklusives Interview würde es nicht geben.

Dann eben beim Abschlusstraining. Das Flutlicht strahlte und tatsächlich, da war er. Ein Thüringer Fotografenkollege bat um eine Pose. Doch was macht Maradona. Er geht zu dem ziemlich aufgeregten Erfurter und nimmt erst mal grinsend den Schutzdeckel vom Objektiv. „Schmidti“ wird rot und bekommt dann das strahlende Lächeln des Stars. Zeit für ein paar Sätze hat Maradona natürlich nicht. Aber wenigstens gibt er mir ein Autogramm für unsere Leser.

Dann also nach dem Spiel. Jetzt komme ich Maradona ganz nah. Er drängt sich durch die Journalisten-Traube. Plötzlich Zentimeter von mir entfernt. Schwitzend, das Trikot ist schon verschenkt – an wen, wurde übrigens nie ermittelt. Er ist klein, nur 1,65 Meter – aber ich spüre eine Aura, die ich nie vergessen werde. Natürlich hat er keine Zeit für Interviews. Doch wer schleicht sich da hinter dem italienischen TV-Team in die Kabine der Neapolitaner. Es ist „Schmidti", der unscheinbar wirkende Fotograf aus Erfurt. Wie kann man den für einen Italiener halten, denke ich, damals noch mit vollem Latin-Lover-Haar. Als er eine Viertelstunde später wieder rauskommt, strahlt Dieter. Er hat ein „echtes", ein ausgeschriebenes Autogramm von Diego auf sein mitgebrachtes Foto bekommen. Ich habe nur den verkürzten Namenszug. Verstanden, was Maradona in der Kabine so alles sagte, hat der Glückliche natürlich nicht.

Ein Interview gab es für uns trotzdem noch. Mit Maradonas brasilianischem Sturmpartner Careca laufen wir mit Übersetzerin Ines von der Kabine in den Fahrstuhl und bis in den Bus. Careca erzählt über Maradona. „Er ist ein feiner Kerl. Ganz normal, nicht überdreht, wenn sie das wissen wollen.“ Und genau deshalb lieben ihn die Leute, trotz seiner vielen Fehler. Ich bin sicher, in der Hölle schmort Maradona nicht.