Haben Sie Ihr Handy abgegeben? Der Doorman guckt, als komme er vom Casting für den nächsten James-Bond-Film. Traumrolle Finsterling. Also lieber keine Widerrede. Drüben am Tresen steckt eine freundliche Hostess das smarte Phone in ein Stoffsäckchen und reicht eine Garderobenmarke als Pfand. Dann darf ich hinein.

Willkommen im Hamburger Kehrwieder-Theater. Die edle Räumlichkeit in der Speicherstadt ist Gastgeber der dritten Station des Schach-Grand-Prix der Weltelite. Der Spielsaal, den ich ohne Handy, dafür mit umso mehr Demut betrete, empfängt seine Gäste mit dem Ambiente eines Schwarzen Theaters. Jähe Dunkelheit. Jähe Stolpergefahr. Grelle Spots fixieren nur die vier Halbfinalisten auf der Bühne. Hier der Pole Duda und der Russe Dubov, daneben dessen Landsmann Grischuk und der Franzose Vachier-Lagrave. Männer, die auf Bretter starren. Und rund 20 Augenpaare, die ihnen dabei zusehen.

Die Stille ist ohrenbetäubend. Ein akustischer Reinst-Raum. Auch hier wacht ein Aufpasser. Es ist nicht klar, wen er mehr kontrolliert: Spieler oder Zuschauer. Als zwei Herren für den Hauch eines Augenblicks unmerklich die Köpfe zusammenstecken, rotiert er auf seinem Drehstuhl wie ein Panzer mit dem Geschützturm und fixiert die Sünder sekundenlang. Wenn Blicke töten könnten, stünde es jetzt schlecht um die beiden.

25 Euro kostet das Ticket, für das der Zuschauer vor allem eines bekommt: die Nüchternheit des Nichts. Keine Tabelle, keine Live-Kommentare per Kopfhörer, keine Analysen der Meister.

World Chess heißt die Firma, die das Spitzenschach vermarktet. Beim Kandidatenturnier in Berlin ging es ähnlich spartanisch zu. Arkadi Dworkowitsch, der neue Präsident des Weltverbandes, scheint nicht glücklich mit dem Auftragnehmer. Doch noch binden ihn bestehende Verträge.

Als „Mister Golden Standard of pathetic organisation“ blaffte Ian Nepomniachtchi den Cheforganisator Ilya Merenzon auf Twitter an. Der russische Großmeister tat es im Frust seines Erstrundenscheiterns. Doch den Widerspruch von schöner Fassade und innerer Leere der World-Chess-Events traf er gut.

Daran gemessen ist das Turnier von Wijk aan Zee der emotionale Gegenentwurf. Ein paar Hundert Spieler teilen sich jährlich im niederländischen Nordseedorf die karge Sporthalle De Moriaan mit den Stars und stehen mit der berühmten Erbsensuppe in der Hand dicht gedrängt an der Barriere, die das Areal der Meister umzäunt.

Braucht Schach überhaupt Live-Publikum? Schließlich: Nirgendwo sonst ist der Sport so körperlos, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt, um gleich zu ergänzen: Aber auch nirgendwo so brutal.

Die Gedanken der Meister sind unsichtbar. Und doch kann es Genuss bringen, sich in die Tiefe einer Partie ziehen zu lassen, sich im Strudel der Unendlichkeit zu verlieren. Vielleicht, weil einmal kein Fingerwisch das Mitdenken erspart. Und vielleicht, weil man als stiller Beobachter nicht die Folgen einer Fehlkalkulation tragen muss.

Schon für den durchschnittlichen Spieler sind die Probleme der meisten Stellungen nicht zu begreifen. Wären die Fehler von Meistern Lebewesen, könnte man sie nur unter dem Mikroskop betrachten, schreibt der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic in seinem Roman „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“. Der normale Zuschauer sieht das, was die Besten auf einen Blick erkennen, nicht mal unterm Mikroskop.

Trotzdem ist er wichtig, sagt Dworkowitsch. Er will auch dem Nichtschachpublikum das Spiel näherbringen. Potenzial ist da. Es existiert die Zahl von 50 Millionen, die sich täglich im Internet damit beschäftigen. Und steht irgendwo ein Brett, an dem zwei Spieler sitzen, ist es schnell umlagert. Schach, das ewige Faszinosum.

Hamburg ist für die Pläne des Präsidenten kein schlechter Ort. Die Stadt ist Heimat von Chessbase, der Online-Bühne, die die Schachwelt verbindet, eine Art Microsoft im Kosmos der 64 Felder. Und zwischen linkem und rechtem Alsterufer findet jährlich das größte Turnier der Erde statt. Schon gibt es Gerüchte, Hamburg könne Gastgeber des WM-Matches 2022 sein. Eine reizvolle Idee.

Sogar für die, die nur wenig vom Schach verstehen. Völlig egal, ob man den Gedanken der Meister folgen kann oder nicht: die Stille ist einfach großartig.