Berlin. 16,7 Prozent aller Haushalte in Deutschland müssen einer Studie nach mit weniger als 12.529 Euro netto im Jahr auskommen.

Mehr als 45 Millionen Bundesbürger haben einen Job, die Zahl der Arbeitslosen mit 1,39 Millionen ist vergleichsweise niedrig und auch die Wirtschaft läuft recht gut. Dennoch sind die Einkommen in Deutschland so ungleich verteilt wie nie zuvor. Die Schere zwischen den Wohlhabenden und den unteren Einkommensgruppen hat sich in den vergangenen Jahren weiter geöffnet. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Besonders auffällig: Die Lücke zwischen den ganz Armen und den ganz Reichen wird immer größer.

Die Zahl der armen Haushalte ist zwischen den Jahren 2010 und 2016 von 14,1 auf 16,7 Prozent gestiegen, berichten die WSI-Studienautorinnen Dorothee Spannagel und Katharina Molitor. Als arm gelten wissenschaftlich betrachtet alle Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medians zur Verfügung haben, also jenes Werts, der die obere Hälfte der Haushalte von der unteren teilt.

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Immer mehr „sehr reiche“ Haushalte

Im Klartext: Der mittlere Verdienst der Haushalte beträgt 2016 laut Studie 20.881 Euro netto im Jahr. Die 60-Prozent-Grenze, die als Armutsschwelle gilt, liegt somit bei 12.529 Euro, rechnet WSI-Sprecher Rainer Jung vor. Haushalte, die weniger als 12.529 Euro im Jahr zur Verfügung haben, gelten demnach als arm. Doch nicht nur die Zahl der armen Haushalte sei gestiegen, sondern auch die sogenannte Armutslücke. Bei der Armutslücke handelt es sich um jenen Betrag, der den Armen fehlt, um die sogenannte 60-Prozent-Hürde des mittleren Einkommens zu überschreiten. Lag der Betrag 2011 noch bei 779 Euro, so stieg dieser bis 2016 auf 3452 Euro – und damit um 29 Prozent. Wie viele Menschen in Deutschland konkret in armen Haushalten leben, können die Wissenschaftler nicht beziffern, da es sich sowohl um Single-, Rentner- und Mehrpersonenhaushalte handelt – wie auch um Familien.

Gleichzeitig hat sich die Zahl der „sehr reichen“ Haushalte in dem Zeitraum von 7,2 auf 7,8 Prozent erhöht. Ihr Einkommen liegt – laut wissenschaftlicher Definition – wiederum 300 Prozent über dem Median und damit bei 62.643 Euro netto. Als „reich“ werden Haushalte mit einem Einkommen bezeichnet, das 200 Prozent über dem Median liegt – also bei 41.762 Euro netto. „Immer mehr Einkommen konzentriert sich bei den Reichen“, meint Spannagel.

Einer der Hauptgründe für das finanzielle Auseinanderdriften der Bevölkerung sind die wachsenden Lohnungleichheiten, berichten die Wissenschaftlerinnen. Diese Spreizung habe bereits in den 1990er-Jahren begonnen. Bereits damals habe eine wachsende Bevölkerungsgruppe am unteren Rand den Anschluss an die Lohnsteigerungen der Mitte der Gesellschaft verloren. Nach der Jahrtausendwende mussten die unteren Lohngruppen zunehmend Einbußen hinnehmen, während die oberen Einkommensgruppen von Zuwächsen profitierten.

So verdienen beispielsweise Beschäftigte in Ostdeutschland fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung bei gleichem Beruf, Geschlecht und vergleichbarer Berufserfahrung immer noch 16,9 Prozent weniger als in Westdeutschland, wie eine weitere WSI-Studie ergab.

Für den Anstieg in den wohl­ha­benderen Haushalten haben insbesondere die Einnahmen aus Kapitalein­kommen gesorgt. Dazu zählen Gewinne aus Aktien sowie Immobilienvermögen. Deren Verteilung ist ebenfalls sehr unterschiedlich. „Es sind fast ausschließlich Haushalte an der Spitze der Verteilung, die in nennenswertem Maße über solche Einkommen verfügen“, so die Studie.

Dies wird auch durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigt. Danach besitzen heute die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte (56 Prozent) des gesamten Vermögens. Die ärmere Hälfte muss sich dagegen mit einem Anteil von 1,3 Prozent der Vermögen begnügen. Dabei spielt insbesondere der Immobilienbesitz eine große Rolle, der viele Besitzende noch wohlhabender gemacht hat.

„Es ist ein Armutszeugnis für Deutschland, dass es selbst unter so stabilen guten konjunkturellen Bedingungen nicht gelingt, die Ungleichheit zu verringern und Armut wirksam zu bekämpfen“, urteilen die Wissenschaftlerinnen. Um der Ungleichheit entgegenzuwirken, empfehlen sie mehrere Maßnahmen. Diese gehen von einer stärkeren tariflichen Bindung von Löhnen, einer höheren Besteuerung von Spitzeneinkommen bis hin zur Erhöhung des Mindestlohnes, der derzeit bei gerade mal 9,19 Euro die Stunde liege. Die Politik habe wirksame Möglichkeiten gegenzusteuern, meint Spannagel: „Wachsende Ungleichheit ist kein Schicksal.“