Erfurt. Der Streit über mehr Rechte für Geimpfte geht quer durch alle politischen Lager. Die wissenschaftliche Basis ist bislang dünn.

Zuerst ein paar Zahlen. In Thüringen lebten zuletzt 2.133.378 Menschen. Nach der Statistik des Robert-Koch-Instituts wurden davon bisher 25.975 gegen das Corona-Virus geimpft. Ganze 21 bekamen die nötige Zweitimpfung, um den versprochenen Schutz von mehr als 90 Prozent zu haben. Alles Wichtige zur Corona-Pandemie in Thüringen lesen Sie in unserem Blog

Das bedeutet: 1,2 Prozent der Bevölkerung dieses Landes sind bisher geimpft – und dies auch nur teilweise. Dass der Anteil schneller als bisher steigt, ist kaum anzunehmen. Im Gegenteil: Aufgrund der Lieferschwierigkeiten wird Thüringen zunächst nur halb so viele Dosen erhalten wie angekündigt.

Trotzdem beginnt hierzulande bereits eine Debatte, die anderswo längst geführt wird: Sollten Geimpfte ihre Freiheitsrechte, die durch den Lockdown beschränkt werden, schneller als andere wiedererlangen?

In Israel ist Zweiteilung die Gesellschaft konkret geplant

Die Frage ist nicht abstrakt. In Israel ist die Zweiteilung die Gesellschaft konkret geplant. Mit einem „Grünen Pass“, so lautet der Plan der Regierung, sollen die Menschen dort nach der Zweitimpfung wieder halbwegs normal leben können – im Unterschied zu denen, die noch nicht beide Spritzen erhalten haben.

Allerdings hat in Israel bereits ein Viertel der Bevölkerung zumindest die erste Impfung bekommen. Bis Ende März sollen alle Menschen über 16 immunisiert sein. Dann, das ist wohl auch kein Zufall, finden mal wieder Wahlen statt.

In Deutschland hat auch ein Wahljahr begonnen. Dennoch geht bei der Debatte um Sonderrechte für Geimpfte die Trennlinie, wie so oft beim Thema Corona, quer durch die Gesellschaft.

Zum Beispiel die SPD: Außenminister Heiko Maas hatte gefordert, Geimpften früher als anderen den Besuch von Restaurants oder Kinos zu erlauben. Auch die Betreiber hätten ein Recht darauf, ihre Betriebe wieder zu öffnen, wenn es dafür eine Möglichkeit gebe, sagte er.

Nicht einmal klar, ob die Impfung auch vor der Weitergabe des Virus schützt

Der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke widersprach: „Solange ich nicht jeden impfen kann, der geimpft werden will, sind solche Debatten überflüssig.“ Auch die SPD-angehörige Bundesjustizministerin sieht es ähnlich. Es sei nicht einmal klar, ob die Impfung auch vor der Weitergabe des Virus durch den Geimpften schützt, sagte Christine Lambrecht. „Allein deshalb verbieten sich gegenwärtig Privilegien für Geimpfte.“

Thüringens SPD-Landeschef Georg Maier wiederum hält das Wort Privilegien für falsch. Es sei die Pflicht der Regierungen, die Grundrechtseinschränkungen schnellstmöglich aufzuheben – auch wenn dies zeitweise Unterschiede bedeute, sagte der Innenminister dieser Zeitung (siehe Pro & Contra).

Ähnlich gespalten wirkt CDU. Der neue Bundesvorsitzende und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet hält die gesamte Debatte für „absurd“ – womit er exakt die Meinung der thüringischen Linke-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow vertritt (siehe ebenfalls unten).

Freiheitseinschränkungen elementarer Art

Dagegen erwartete Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) schon im Dezember mit Blick auf Israel eine harte Debatte: Restaurants, zum Beispiel, könnten künftig auf eine Impfung oder einen negativen Corona-Test für Gäste bestehen, sagte sie damals. „Natürlich sind wir ein Land, das Privatwirtschaft hat. Verhindern werden wir das nicht können.“

Noch grundsätzlicher argumentiert der Verfassungsrechtler Michael Brenner. „Es ist verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar und verstößt gegen das Grundgesetz, wenn erfolgreich geimpfte Bürger weiter nicht reisen, ins Restaurant oder Theater gehen dürfen“, sagte der Jenaer Universitätsprofessor dieser Zeitung.

Schließlich gehe es um „Freiheitseinschränkungen elementarer Art“. Sie bedürften einer sachlichen Rechtfertigung und sie müssten verhältnismäßig sein. „Wenn sich Menschen haben impfen lassen und infolge dessen nicht mehr ansteckend sein sollten und selbst nicht mehr angesteckt werden könnten, ist ein sachlicher Grund für Grundrechtseinschränkungen nicht mehr vorhanden“, sagte Brenner.

Mutationen sorgen für zusätzliche Ungewissheit

Doch sind geimpfte Menschen nicht mehr ansteckend? Bislang gibt es keine Studie, die auf diese Frage eine eindeutige Antwort gibt. Die bisherigen Forschungen und Erfahrungen mit den bekannten Impfstoffen sprechen nur überwiegend dafür, dass die sogenannte Viruslast geringer ist und die Menschen über einen kürzeren Zeitraum infektiös sind.

Für zusätzliche Ungewissheit sorgen die Mutationen des Corona-Virus, die sich von Großbritannien und Südafrika ausbreiten und deutlich ansteckender sind. Zwar weisen erste Forschungen darauf hin, dass der Impfschutz auch hier zumindest teilweise gegeben ist. Doch belastbare Erkenntnisse, ob und wir stark Geimpfte die neuen Virus-Varianten übertragen, gibt es noch nicht.

Mehr Rechte für Geimpfte?

Pro: Rückkehr zur Normalität

Von Georg Maier

Zuallererst: Es geht hier nicht um die Einräumung von Sonderrechten, sondern um die Rückkehr zur Normalität.

Georg Maier ist Thüringer Innenminister und Landesvorsitzender der SPD.
Georg Maier ist Thüringer Innenminister und Landesvorsitzender der SPD. © dpa | Frank May

Wir alle müssen derzeit Beschränkungen in verschiedenen Härtegraden erdulden. Es mag für manche nur ein kleiner Preis sein, nicht ins Kino zu gehen oder auf Verwandtschaftsbesuche zu verzichten.

Für andere wiederum bedeuten die Corona-Einschränkungen die Bedrohung der eigenen Existenz. Nicht zu vergessen die Familien und Kinder, die durch Schließung der Kindergärten und Schulen besonders unter Druck stehen.

Die Einschränkungen haben zum Ziel, unser Gesundheitssystem vor der Überlastung zu schützen. Wir retten dadurch Menschenleben, die aktuellen Maßnahmen sind daher gerechtfertigt und verhältnismäßig.

Es ist eine große wissenschaftliche Leistung, dass bereits jetzt Impfstoffe bereitstehen. Damit können wir Druck von unserem Gesundheitssystem nehmen. Und: Die Impfung ist unser Schlüssel zur Rückkehr ins soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben. Das bedeutet aber auch, dass sich Einschränkungen mit jeder Impfung weniger gut begründen lassen.

Vor 30 Jahren wurden in Thüringen demokratische Grundrechte mutig erkämpft. Es ist geschichtsvergessen, diese nun als Privilegien zu bezeichnen. Unsere Pflicht als Regierung ist es, diese Grundrechtseinschränkungen schnellstmöglich aufzuheben – auch wenn dies zeitweise Unterschiede bedeutet. Dieser Weg erfordert Verstand und Solidarität von uns allen. Solidarität bedeutet für mich auch die mit Kulturschaffenden und Restaurantbetreibern. Nicht etwa eine Logik, die sagt: „Was nicht alle haben können, soll keiner haben.“ Das ist Gleichmacherei, die wirtschaftlich und sozial nicht durchzuhalten ist.

Contra: Entscheidung ohne Zwang

Von Susanne Hennig-Wellsow

Das ist eine Geisterdebatte: Zum einen wissen wir noch gar nicht, ob Geimpfte tatsächlich niemanden mehr anstecken können. Solange es da auch nur den geringsten Zweifel gibt, verbietet sich jede Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften.

Susanne Hennig Wellsow ist Fraktions- und Landeschefin der Linken in Thüringen.
Susanne Hennig Wellsow ist Fraktions- und Landeschefin der Linken in Thüringen. © Britta Pedersen

Zum anderen gibt es noch gar nicht genug Impfstoff für alle, die es wollen. Im Sommer wird sich das wohl ändern, aber bis dahin dürfen wir nicht diejenigen benachteiligen, die gern wollen, aber nicht dürfen.

Selbstverständlich sind die Grundrechte eines jeden Einzelnen ein sehr hohes Gut. Und ja, wenn die Gründe für die Einschränkungen entfallen, dann darf es auch keine mehr geben. Aber so weit sind wir leider noch lange nicht.

Bis dahin aber bedeutet jede Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften am Ende nichts anderes als eine Impfpflicht durch die Hintertür, und die wäre falsch. Denn so wichtig diese Impfung gerade für unser Gemeinwesen ist: Jede Impfung hat immer auch ein Restrisiko, und jeder Mensch sollte frei darüber entscheiden dürfen, ob sie oder er das möchte.

Für mich selbst ist die Entscheidung klar: Nach sorgfältiger Prüfung halte ich das Risiko der Impfung für sehr, sehr viel geringer als die Gefahr einer Corona-Infektion. Ich würde mich sofort impfen lassen. Aber diese Entscheidung darf nicht mit direktem oder indirektem Zwang von außen aufgedrückt werden.

Und machen wir uns nichts vor: Wenn nur Geimpfte bestimmte Jobs bekommen oder verreisen dürfen, dann ist das ein indirekter Impfzwang. Und der wird unweigerlich dazu führen, dass noch mehr Menschen die Impfung ablehnen. Wir brauchen in der jetzigen Situation keine Spaltung der Gesellschaft, sondern noch mehr Solidarität!

Bund und Länder einigen sich auf Verlängerung und Verschärfung der Corona-Maßnahmen

Virus-Mutationen noch nicht in Thüringen nachgewiesen