Jena. Wie „Schnitte“ seinen Geburtstag mit Passanten in Jena feiert.

„Schnitte“ lebt auf der Straße und fühlt sich frei. Mit seinen bunten Wollsachen und einem gewinnenden Lächeln für jeden sitzt der 29-Jährige in der Löbderstraße. Michael Thomas Bolg, so heißt „Schnitte“ mit bürgerlichem Namen, feierte am gestrigen Dienstag seinen Geburtstag gemeinsam mit Passanten in der Löbderstraße. Einige folgten der Einladung, andere schauten skeptisch. Viele hatten vorgeblich keine Zeit.

"Schnitte" lebt auf der Straße und feiert seinen Geburtstag mit Passanten in der Löbderstraße in Jena. Foto: Conni Winkler © zgt

„Komisch, die meisten würden Kuchen nehmen, wenn sie ihn für zu Hause kaufen könnten, aber geschenkt wollen ihn nur wenige“, sagt „Schnitte“, der gerade bei den Insulanern am Inselplatz untergekommen ist. Genau solche gesellschaftlichen Konventionen seien es, denen er entfliehen wolle, indem er auf der Straße lebe. „Seit ich mich für dieses Leben bewusst entschieden habe, fühle ich mich frei, und meine Depressionen waren von einem Tag auf den anderen weg.“

Bis 2016 studierte er in Jena und probierte verschiedene Studiengänge aus: Bioinformatik, Pharmazie, Geologie und zuletzt Philosophie. In keinem Studiengang hat er sich wiedergefunden. Allgemeiner Weltschmerz habe ihn zunehmend mehr belastet. Nachdem Minijob, Wohnung und Freundin innerhalb kurzer Zeit weg waren, entschied er sich für ein Leben auf der Straße. „Ich hätte auch wieder bei meinen Eltern einziehen können.“ Aber das sei nicht das gewesen, was er wollte. Michael Thomas Bolg erzählt davon, wie überrascht seine Eltern gewesen seien, als sie ihn nach einiger Zeit der Obdachlosigkeit wiedersahen. „Sie haben gemerkt, wie glücklich ich bin, und ab da war es auch für sie okay, dass ich so lebe.“ Auch wenn die Freiheit sein höchstes Gut ist, eine Regel hat sich der Obdachlose trotzdem auferlegt: kein Alkohol, kein Tabak und keine Drogen. „Das versaut einem alles.“

Manchmal wird „Schnitte“ von einigen Menschen kritisch beäugt. „Einer hat heute die Stadt angerufen und behauptet, ich würde Kuchen verkaufen.“ Die Herren vom Ordnungsamt empfahlen ihm daraufhin, ein Schild aufzustellen: „Kuchen zu verschenken.“ Trotzdem habe er heute eigentlich nur positive Erfahrungen gemacht: ein Lächeln, Glückwünsche von Vorbeieilenden, nette Gespräche mit Menschen, die seiner Einladung zum Kuchenessen gefolgt sind.

Im vergangenen Jahr verbrachte der 29-Jährige seinen Geburtstag auch auf der Straße in Hamburg, zusammen mit einem Freund. Jemand habe ihn zum Essen eingeladen, obwohl derjenige gar nicht wusste, dass er Geburtstag hatte. „Schnitte“ glaubt an das Schicksal und dass ein Mensch das bekomme, was er vom Leben erwarte. „Jeder schafft sich seine eigene Realität“, sagt der ehemalige Philosophiestudent. Gefragt nach dem Alltag und wovon er sein Leben bestreite, sagt der Obdachlose, er bekomme immer so viel Geld am Tag zusammen, wie er brauche. „Ich mach‘ mir da keinen Stress.“ Für die Zukunft wünscht sich der 29-Jährige ein Leben in Frieden, Liebe und natürlich in Freiheit.