Berlin. Viele Angehörige kümmern sich fürsorglich um kranke Familienmitglieder. Doch wenn das Wissen über Medikamente fehlt, drohen Probleme.

Innerhalb von drei Stunden war alles anders, sagt Karin M. Zum Abendessen hatte sie der pflegebedürftigen Mutter die Tablette gegeben, „dann wurde sie aggressiv. Nie zuvor habe ich sie so erlebt“, sagt M. heute. Der Arzt ist damals nicht zu erreichen, der nächste Termin erst Wochen später. Karin M. beschließt, die Tabletten abzusetzen.

Es war ein Versuch von vielen, den Zustand ihrer 86 Jahre alten Mutter zu verbessern, die in dieser Zeit schon morgens zu rufen anfing: „Ich habe Angst. Große Angst“, immerzu. Was das Leiden der alten Frau verursacht hat, weiß niemand genau. Vor einer Woche ist sie verstorben, und Karin M. sagt: „Ich wollte meiner Mutter so gerne helfen, aber ich wusste nicht wie. Man fühlt sich als Angehörige sehr ohnmächtig.“

So wie Karin M. kümmern sich 2,5 Millionen Menschen in Deutschland um einen Angehörigen – viele von ihnen auch um deren Versorgung mit Medikamenten. Eine fordernde, häufig überfordernde Aufgabe, wie eine aktuelle Untersuchung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) zeigt.

Viele Angehörige berichten über Probleme bei Medikamentenversorgung

Demnach ist bei 77 Prozent der befragten pflegenden Angehörigen im vergangenen halben Jahr ein Problem in der Medikamentenversorgung aufgetreten: weil ein Präparat aufgebraucht war, es zum falschen Zeitpunkt angewendet worden ist, weil die pflegebedürftige Person das Medikament nicht nehmen wollte oder der Angehörige schlicht nicht wusste, ob ein Medikament angezeigt war.

Diese Ergebnisse sind alarmierend, denn die Arzneimitteltherapie älterer Menschen ist ein besonders sensibler Bereich. Ältere reagieren aufgrund altersbedingter Veränderungen im Körper anders als jüngere Patienten auf Medikamente. So scheiden sie zum Beispiel durch eine nachlassende Nierenfunktion Medikamente langsamer aus, was bei der Dosierung berücksichtigt werden muss. Oder sie zeigen untypische Symptome. „Es wird bei älteren Menschen immer schwieriger, Nebenwirkungen, Altersbeschwerden und Symptome neu auftretender Erkrankungen voneinander zu unterscheiden“, sagt Sabine Haul.

Aufgrund altersbedingter Veränderungen im Körper reagieren ältere Menschen anders auf Medikamente als jüngere Patienten (Symbolbild).
Aufgrund altersbedingter Veränderungen im Körper reagieren ältere Menschen anders auf Medikamente als jüngere Patienten (Symbolbild). © Patrick Pleul/dpa

Die Apothekerin hat sich auf die geriatrische Pharmazie spezialisiert und berät pflegende Angehörige. „Die Arzneimitteltherapie ist ein Hochrisikoprozess. Schon ein kleiner Fehler kann schwerwiegende Folgen haben.“ Das Unwissen kann Menschenleben kosten. Haul beobachtet, dass selbst vielen Ärzten die geriatrische Expertise fehlt und der Medikationsplan oft nicht auf das Lebensalter der Patienten zugeschnitten ist. „Die Ärzte haben nicht die Zeit für Weiterbildung, etwa zum Thema Demenz. Bilden sie sich doch weiter, wird es nicht honoriert“, sagt Haul. Schon jetzt arbeiteten viele am Rande ihrer Belastungsgrenze.

Großteil der Pflegebedürftigen in Deutschland wird zuhause betreut

In Deutschland werden drei Viertel der rund 3,4 Millionen Pflegebedürftigen von Angehörigen allein oder mithilfe eines Pflegedienstes zu Hause gepflegt. Die Verantwortung für die Ehefrauen, Töchter, Ehemänner und Söhne ist groß, je nach Pflegegrad immens. Gleichzeitig fehlt das Wissen über die medikamentöse Versorgung.

Eine Lücke, die zum Beispiel die Hamburger Angehörigenschule mit kostenloser Beratung und Schulung so gut es geht zu schließen versucht. „Wir haben festgestellt, dass das Thema Medikamentenversorgung die Angehörigen sehr verunsichert“, sagt die Leiterin der gemeinnützigen Organisation im Verbund der Diakonie, Gabriele Schröder. „Die Pflegesituation ist ohnehin Neuland für die meisten, dazu kommt die emotionale Belastung. Und dann sollen sie ohne Wissen in dem Bereich eine so verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen. So passieren Fehler“, sagt Schröder.

Das größte Risiko bei der Medikamentenversorgung sei die fehlende Übersicht, sagt Schröder: Welche Ärzte sind im Spiel, welche Mittel? Gibt es einen Medikationsplan? Oder gleich mehrere? Laut ZQP-Analyse geben 87 Prozent der befragten pflegenden Angehörigen an, die Person, um die sie sich kümmerten, nehme mindestens drei Medikamente. 55 Prozent sprachen von fünf und mehr Arzneimitteln.

Was ist, wenn Angehörige zehn verschiedene Medikamente nehmen müssen?

„Die Komplexität überfordert die Menschen“, bestätigt Haul: „Stellen Sie sich vor, ein Mensch bekommt zehn verschiedene Medikamente. Dann schaffen Sie es, sich zu merken: Die blaue Tablette immer vor dem Abendessen geben. Beim nächsten Mal ist die blaue Tablette aber eine gelbe, weil der Rabattpartner der Krankenkasse gewechselt hat.“ Außerdem geht es um Fragen wie die korrekte Einnahme – welche Tablette darf geteilt werden, welche auf keinen Fall gemeinsam mit schwarzem Tee eingenommen werden? Auch die Pflegekräfte seien mitunter von der Medikamentengabe überfordert. „Das kann ihnen niemand vorwerfen. Wir haben immer aufwendigere Arzneimittel, die Therapien werden komplexer.“

Manche Anforderung können die Dienste auch logistisch nicht erfüllen, etwa wenn Arzneimittel jeden Tag zur gleichen Zeit eingenommen werden müssen. „Wichtig ist, dass der Angehörige ein Therapieverständnis bekommt“, sagt die Apothekerin, „das gibt ihm Sicherheit.“

Auch frei verkäufliche Präparate haben Nebenwirkungen

Ein wenig bekannter Lösungsansatz liegt dort, wo auch die Expertise in Sachen Arzneimittel liegt: bei den Apotheken. Sie bieten mit sogenannten AMTS-Managern bundesweit Medikationsanalysen an. AMTS steht für Arzneimitteltherapiesicherheit. Der Patient oder der Angehörige kommt für die Analyse mit allen Medikamenten in die Apotheke, „auch mit den in Drogerien oder Supermärkten erworbenen Nahrungsergänzungsmitteln“, sagt Haul, selbst ausgebildete AMTS-Managerin.

„Alles kommt auf den Tisch.“ Denn auch frei verkäufliche Präparate haben Nebenwirkungen oder können sich negativ auf den Therapieplan auswirken. Außerdem bringen die Angehörigen Laborberichte und Medikationspläne mit. „Wir gucken dann, welche Medikamente werden eingenommen, wo gibt es vielleicht Probleme mit Wechselwirkungen, und erklären auch, wie die Präparate richtig angewendet werden.“ Deswegen sei auch die Rolle der Stammapotheken so wichtig – ganz unabhängig von einer Medikamentenanalyse: „Bei uns laufen oft alle Fäden zusammen.“

„Es gibt Menschen, die sind dazu nicht in der Lage“

Das hat auch Karin M. gespürt. Sie bekam eines Tages einen Anruf von ihrer Apothekerin Sabine Haul. Ob denn bei ihrer Mutter alles in Ordnung sei, im Computer der Apotheke stünden viele Medikamente, die in dieser Kombination nicht gut für sie seien. „Diese Initiative von Menschen, die sich auskennen, hatte ich davor lange vermisst“, sagt M., „immer war ich es, die aktiv werden musste. Und es gibt Menschen, die sind dazu nicht in der Lage.“ Sie blieben allein mit ihren Ängsten. Für Karin M. war die Pflegesituation nicht neu. Sie hatte vor ihrer Mutter bereits elf Jahre lang ihren Lebenspartner gepflegt. Auch ihr Vater braucht Hilfe, er ist 95. „Ich hatte bei meiner Mutter – in Anführungszeichen – das Glück, dass ich schon vieles wusste. Aber bei meinem Mann fühlte ich mich damals oft unaufgeklärt und bevormundet. Und auch jetzt gab es noch Situationen, in denen ich hilflos war.“

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