Bangor (dpa/tmn). In Nordwales wollen die meisten Besucher einmal auf den Snowdon steigen. Deshalb ist der Berg überfüllt und verdreckt. Den Massen entgeht man auf anderen Routen in der Region - und zwar im Winter.

Die Luft an diesem Märztag ist so klar, dass die erste Aussicht der Tour weit über die Irische See reicht, zur Isle of Man, mehr als 100 Kilometer entfernt. „Wir haben ausgesprochenes Glück“, sagt Tim Jones.

Der 60-jährige Waliser muss es wissen. Jones ist leidenschaftlicher Wanderer. Und stellvertretender Vorsitzender der Behörde, die sich um den beliebtesten Nationalpark in Wales kümmert: Eryri, besser bekannt als Snowdonia.

Der Guide steht auf einer Anhöhe im Cwm Idwal, einem von der Eiszeit geformten, natürlichen Amphitheater im Norden des Nationalparks. Die umliegenden Felswände thronen um einen Gebirgssee, den Llyn Idwal. Die Bergkämme scheinen nur leicht von Schnee überzuckert zu sein, das Ende des Winters liegt schon in der Luft.

Eine hervorragende Zeit, um in Snowdonia zu wandern. Die Landschaft entfaltet dann einen besonderen Reiz - und es ist kaum jemand sonst unterwegs. Danach muss man in den meisten beliebten Wanderregionen mittlerweile suchen.

Wenn die Besuchermassen zum Problem werden

Die mit Abstand populärste Tour in Eryri führt auf den Snowdon, auf Walisich Yr Wyddfa, der höchste Gipfel Großbritanniens außerhalb von Schottland - und deshalb überlaufen. Mehr als 600.000 Besucher kommen jedes Jahr, um einmal auf dem Berg zu stehen.

Tim Jones rät Wanderern, die Ruhe suchen, von der Besteigung ab. „Man bekommt kein Gefühl für die einsame Schönheit der Berge“, sagt er. Während der Pandemie habe man am Yr Wyddfa sogar menschliche Ausscheidungen zu Gesicht bekommen. Der Müll sei erschreckend gewesen. Der Park hat eine Kampagne gestartet, um den Berg plastikfrei zu bekommen und die Besucher zu sensibilisieren.

Der Overtourism mit seinen negativen Begleiterscheinungen zeigt sich auch hier in Nord-Wales. Auf die höchste Erhebung wollen sie alle, so etwas zieht die Massen an, nicht anders als in den Alpen. Dabei ist eine winterliche Wanderung durchs Cwm Idwal um einiges reizvoller.

Cwn Idwal ist das älteste Naturreservat in Wales, es schützt die arktisch-alpine Flora. Ausgangspunkt für Wanderungen ist der Parkplatz beim Idwal Cottage, ein Besucherzentrum an der Straße. Ziel des heutigen Tages ist Devil's Kitchen, auf Walisisch Y Twll Du. Das „Schwarze Loch“ ist ein markanter Riss im Fels. Geht man links daran vorbei, gelangt man auf die Glyderau-Bergkette.

„Um ganz nach oben zu steigen, ist es heute zu vereist“, sagt Jones. Ohne Steigeisen sei das Risiko zu hoch. Die Natur lässt sich auch bestens im Tal genießen, bei einer Umrundung des Sees. Der Pfad führt bald rechts vorbei, steigt an. Hier bleibt der Schnee liegen und überzieht die Steine. Eiskristalle glitzern an den Gräsern.

Die Illusion von Wildnis

Jones hält Ausschau nach wilden Ziegen. „Man riecht sie, bevor man sie sieht“, sagt er. „Normalerweise fliehen sie, wenn man ihnen zu nahe kommt. Aber ich habe auch schon Leute gesehen, die sie gefüttert haben.“ So hinterlässt der Mensch stets seine Spuren. „Viele glauben, das hier sei echte Wildnis“, sagt Jones. „Aber diese Berge sind nicht wild.“ Ähnlich wie im kargen schottischen Hochland gab es hier einmal Wälder, doch sie wurden gefällt.

Auch die Schafzucht hat die Landschaft geformt. „Das war Heideland“, sagt Jones und zeigt auf eine Pflanze. „Davon würde es hier sehr viel mehr geben ohne die Schafe.“ Erst in größeren Höhen wachsen geschützte alpine Pflanzen wie die Snowdon-Lilie, Alpen-Frauenmantel und ein Moos-Steinbrech mit dem hübschen Namen Purpurmantel.

Nicht zuletzt verändert auch der Klimawandel das Gebirge. Wegen der höheren Temperaturen gehen die arktisch-alpinen Pflanzen ein, der Rhododendron breitet sich aus, eine invasive Art. Ein Problem sei auch das Grauhörnchen, sagt Jones. Es wurde aus Nordamerika eingeführt und hat das rote Eichhörnchen fast verdrängt.

Die Legende vom glücklosen Prinzen

Wir steigen weiter auf. Das Gestein ist nun von einer ordentlichen Schicht Schnee überzogen. „In harten Wintern tragen die Felsen hier lange Eiszapfen“, sagt Jones. Dann kommen Eiskletterer.

Devil's Kitchen ist nahe. Das Gelände wird unwegsamer, die Steigung nimmt zu. Die Tradition der Waliser sieht keine Wegweiser in der Natur vor, erklärt Jones. Deshalb muss man den Pfad manchmal suchen. Das lohnt sich: Der Blick zurück über den Idwal-See ist spektakulär.

Benannt sind Tal und See nach einem Prinzen, Idwal. Der Sage nach wurde der Junge von einem neidischen Cousin in dem Gewässer ertränkt. So benannte der König den See nach ihm. Tatsächlich starb der Prinz in einer Schlacht, möglicherweise wurde er hier bestattet.

„Die Legende besagt, dass seitdem kein Vogel über den See fliegt“, sagt Jones. „Aber das ist Blödsinn.“ Neben Dachs und Rotfuchs zählt der Rabe zu den größten Raubtieren der Region. Manchmal sieht man ihn über den Bergen kreisen. Zu hören ist er heute aber nicht. So bleibt man stehen, fast andächtig in dieser stillen Winterwelt, und hört tatsächlich: nichts. Wunderbar.

Tipps, Links, Praktisches:

Anreise: Der Snowdonia-Nationalpark liegt im Nordwesten von Wales. Am schnellsten erreicht man den Park mit einem Mietwagen von Liverpool und Manchester aus (Direktflüge ab Deutschland). Alternativ mit dem Zug nach Bangor und von dort mit dem Bus zum Wanderparkplatz.

Wandern: Neben Cwm Idwal gibt es weitere reizvolle Touren, die sich für erfahrene und gut ausgerüstete Wanderer auch im Winter eignen: The Snowdon Horseshoe; High Carneddau ab Llyn Ogwen aus; Y Garn, Glyderau und Tryfan ab Ogwen; Moel Siabod ab Capel Curig. Anbieter u.a. Adventure Tours UK (https://adventuretoursuk.com).

Informationen: www.visitwales.com