Kiew. Die Gegenoffensive entfaltet sich langsam, ihre ersten Erfolge spielte Russland noch herunter – doch das scheint sich jetzt zu ändern.

Die Soldaten kämpfen sich durch ein kleines Waldstück, schießen in mit Gestrüpp getarnte Erdlöcher, werfen Handgranaten hinein. In den Löchern sterben russische Infanteristen. Es sind Bilder aus einem der zahlreichen Videos, die derzeit in den sozialen Medien verbreitet werden.

Die Männer, die auf ihnen zu sehen sind, gehören zur 3. Sturm-Brigade, die derzeit bei Bachmut vorstößt. Die ukrainische Gegenoffensive entfaltet sich langsam. Der große Schlag der Ukraine ist bisher ausgeblieben, könnte aber unmittelbar bevorstehen. Lesen Sie dazu den Kommentar: Ukrainische Offensive: Den Krieg wird sie nicht beenden

Derzeit stoßen die ukrainischen Streitkräfte im Norden und Süden der seit dem vergangenen Spätsommer umkämpften und völlig zerstörten Industriestadt Bachmut vor. Diese Offensivaktionen dauern schon seit mehreren Wochen an und sind offensichtlich erfolgreich.

Die Ukrainer konnten mehrere Quadratkilometer Geländegewinne erzielen. Ziel in dieser Region ist die Einkesselung der russischen Truppen, die das eigentliche Stadtgebiet von Bachmut seit Mitte vergangenen Monats nahezu vollständig kontrollieren.

Ukraine-Krieg: Die Offensive ist mühsam und gefährlich

Seit dem 4. Juni führen die Ukrainer zudem offensive Operationen an südwestlich von Bachmut gelegenen Frontabschnitten der Regionen Donezk und Saporischschja durch. In der Region Saporischschja versuchen die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyi, von Westen aus der Richtung des Dorfes Lobkowe und von Osten aus der Richtung der Kleinstadt Orechiw auf die Stadt Tokmak etwa 20 Kilometer südlicher vorzustoßen.

Tokmak ist strategisch wichtig. Die Stadt ist ein Verkehrsknotenpunkt, Straßen führen von hier zu den russischen besetzten Städten Berdjansk und Melitopol. Von diesen Städten aus könnte die Brücke zur Krim beschädigt werden, womit die russischen Streitkräfte im Süden vor erhebliche Nachschubprobleme gestellt würden.

Dieses Bild aus einem Video soll soll zerstörte westliche Panzer zeigen.
Dieses Bild aus einem Video soll soll zerstörte westliche Panzer zeigen. © VIA REUTERS | Russian Defence Ministry

An diesem Frontabschnitt zeigt sich auch, wie mühsam und gefährlich die Offensive ist. Die russischen Verteidigungsstellungen im Süden der Ukraine sind sehr gut ausgebaut und in drei Reihen gestaffelt. Die Angriffe dort sind Kampfaufklärungseinsätze – Nadelstiche, mit denen getestet werden soll, wie stark die russischen Positionen tatsächlich sind, sagen Militärexperten. Aber schon diese Angriffe sind enorm verlustreich.

Verlust von westlichen Panzern nach misslungener Operation

Am vergangenen Donnerstag verloren die ukrainischen Streitkräfte bei einer misslungenen Attacke zwei Leopard-2-Panzer, die durch russisches Feuer zerstört wurden. Darunter auch einer der Typs 2A6 aus Bundeswehrbeständen.

Die hohen Verluste der Ukrainer sollen auf Fehler von Befehlshabern zurückgehen, die die Fahrzeuge zu nah beieinander fahren ließen. Zwei weitere 2A6-Leoparden mussten von den Ukrainern auf dem Feld verlassen werden. Zudem sollen die Ukrainer bereits 17 Schützenpanzer des Typs Bradley aus US-Beständen verloren haben, das sind rund 15 Prozent der bislang gelieferten Panzer dieses Typs.

Erfolge vermelden die Ukrainer weiter östlich. Dort konnten die ukrainischen Streitkräfte in der Region Donezk südwestlich des Dorfes Welyka Nowosilka sieben Kilometer in die Tiefe vorstoßen, die Orte Blahodatne, Makariwka, Neskutschne und Storoschewe befreien und ein Gebiet in der Größe von 65 Quadratkilometern unter Kontrolle bringen. Das Militär hat Bilder von Soldaten veröffentlicht, die in diesen Orten die ukrainische Fahne hissen.

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Russische Kriegsblogger sprechen von „besorgniserregenden Trends“

Die russischen Kriegsblogger haben die ukrainischen Erfolge auf diesem Frontabschnitt eine Weile lang heruntergespielt – mit dem Verweis darauf, dass russische Positionen geografisch höher lägen und man von dort aus die Ukrainer effektiver beschießen könne. Weil Makariwka, der südlichste von den befreiten Orten, aber auf dem Hügel liegt, hat sich die Stimmung verändert. Die Russen werden nervös.

Ukrainische Soldaten hissen nach der Rückeroberung des Dorfs Blahodatne die ukrainische Fahne.
Ukrainische Soldaten hissen nach der Rückeroberung des Dorfs Blahodatne die ukrainische Fahne. © VIA REUTERS

„Besorgniserregende Trends, die die Situation an dieser Front kritisch machen können, nehmen leider weiter zu. Seit vielen, vielen Monaten verfügt der Feind über eine klare Überlegenheit an Menschenressourcen und Technik“, heißt es auf dem Telegram-Kanal WarGonzo mit 1,3 Millionen Followern. „Wenn es dem Feind gelingt, sich in Makariwka zu festigen, wird er es auf jeden Fall versuchen, diesen Ort als Sprungbrett für weitere Aktionen zu nutzen.“

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Alles in allem ist es der Ukraine zumindest Richtung Mariupol gelungen, die erste russische Verteidigungslinie erfolgreich zu brechen – ein beunruhigendes Zeichen für die Russen, denn bei allen ukrainischen Verlusten wurde der Großteil der für die Sommeroffensive vorbereiteten Brigaden noch nicht eingesetzt.

Jedoch wird es für die Ukrainer in diesem Krieg nicht leichter werden, im Gegenteil: Die am stärksten ausgebauten Verteidigungslinien der Russen mit riesigen Minenfeldern, die noch weiter südlicher liegen, wurden von den Ukrainern noch nicht erreicht. Dies ist auch deswegen ein Problem, weil unter der bisher verlorenen ukrainischen Technik relativ viele Minenräumer sind.

Bereits 2022 hatten die ukrainischen Streitkräfte die Russen überrascht

Sollten Städte wie Mariupol, Melitopol oder Berdjansk befreit werden, läge nicht nur die Krimbrücke in Reichweite ukrainischer Raketen. Damit würde auch ein Keil in die Frontabschnitte im Osten und Süden getrieben, die russischen Streitkräfte im Süden liefen Gefahr, nahezu komplett von der Versorgung abgeschnitten zu werden.

Das wäre ein weiteres militärisches Desaster für Moskau. Angesichts der enormen Verluste schon bei der Vorbereitung der eigentlichen Gegenoffensive im Süden ist ein anderes Szenario denkbar: Ein Vorstoß Richtung Osten mit der Zielrichtung der seit 2014 unter Kontrolle prorussischer Separatisten stehenden Städte Donezk und Luhansk. Auch interessant: Russlands Atomwaffen: Bricht Putin das nukleare Tabu?

Bereits 2022 hatten die ukrainischen Streitkräfte die Russen völlig überrascht, indem sie zunächst in der Region Cherson im Süden attackierten, dann aber große Geländegewinne in der Region Charkiw im Nordosten machten. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Ukraine Truppen in der Region vor Bachmut und weiter nördlich ansammelt, darunter sollen Brigaden mit modernen Waffen aus dem Westen seien; auch Leopard-Panzer wurden dort gesichtet. Zudem sind die Verteidigungsstellungen Russlands im Osten nicht so ausgebaut wie im Süden.

Die politische Führung in Kiew ist neben der Gegenoffensive aber noch immer mit den Folgen der Zerstörung des Kachowkaer Staudammes beschäftigt. Obwohl das Wasser in manchen Gegenden teilweise zurückgeht, bleiben insgesamt 46 Orte überflutet – 32 auf dem von der Ukraine kontrollierten westlichen Dnipro-Ufer des Bezirks Cherson und 14 auf dem vorerst stärker betroffenen von den Russen besetzten östlichen Ufer. Im benachbarten Bezirk Mykolajiw stehen weiterhin 31 Orte unter Wasser. Das könnte Sie auch interessieren: Moskau will Befehl über Wagner-Söldner: Prigoschin eskaliert

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