Berlin. Was passiert mit den Geiseln der Hamas? Die Terroristen spielen ein gefährliches Spiel. Ausgerechnet Katar könnte jetzt vermitteln.

Yoni Asher hat einen Traum. „Meine Vision und Hoffnung ist, dass ich nach Deutschland komme, um Olaf Scholz danke zu sagen, mit dieser Puppe, mit meinen Kindern und meiner Frau“, sagt Asher. Vor ihm liegt eine schwarz-weiß-gelbe Mickey-Mouse-Puppe aus Plastik, das Lieblings-Spielzeug seiner dreijährigen Tochter Aviv. Asher spricht am Mittwochabend auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv. Kurz zuvor haben sich die Angehörigen deutscher Geiseln mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) getroffen.

Seine Frau, seine zwei Töchter und ihre Großmutter, die allesamt die deutsche Staatsbürgerschaft haben, seien aus einem Haus in einem Kibbuz nahe dem Gazastreifen entführt worden, sagt der Israeli Asher. Es war der Tag, an dem die islamistische Terrororganisation Hamas ihre grausamen Angriffe auf Israel startete.

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    Die Gespräche mit den Familien der Geiseln hätten ihn „tief berührt“, betonte der Kanzler

    Die Gespräche mit den Familien der verschleppten Geiseln hätten ihn „tief berührt“, betonte der Kanzler bei seiner Regierungserklärung am Donnerstag im Bundestag. Scholz forderte die Hamas auf, alle Geiseln „ohne Vorbedingungen“ freizulassen.

    Die Befreiung der deutschen Entführungsopfer aus den Fängen der Hamas gehört derzeit zu den Top-Prioritäten der Ampelkoalition. Die Bundesregierung spricht von acht „Fällen“ der Geiselnahme. Ein „Fall“ kann zum Beispiel eine Familie mit mehreren Mitgliedern sein. Aus nahöstlichen Quellen ist von insgesamt 16 Deutschen die Rede, die meisten davon mit doppelter Staatsbürgerschaft. Das Auswärtige Amt hat einen Sonderkrisenstab eingerichtet.

    Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) brach am Donnerstag zu zweitägigen Gesprächen nach Jordanien, Israel und in den Libanon auf. „Ich werde diese Reise nutzen, um mit all denen, die über Kanäle zur Hamas verfügen, darüber zu sprechen, wie die Geiseln freigelassen werden können und weitere Kontakte herstellen“, erklärte Baerbock.

    Ein Großteil der Geiseln dürfte sich in unterirdischen Tunneln befinden

    Direkte Drähte zur Hamas haben Länder wie Katar, die Türkei oder Ägypten. „Alle drei können bei der Vermittlung und Deeskalation in der aktuellen Lage eine wichtige Rolle spielen“, unterstrich Scholz kürzlich. Westliche Experten gehen davon aus, dass die Hamas ihre Geiseln an verschiedenen Orten im Gazastreifen versteckt hat. Ein Großteil befindet sich vermutlich in einem mehrere Hundert Kilometer langen unterirdischen Tunnelsystem.

    Die Bundesregierung setzt voll auf Verhandlungen. Hier hat insbesondere Katar Einfluss. Das Land am Persischen Golf hatte bereits nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban im August 2021 in Afghanistan eine wichtige Rolle gespielt. Über die Hauptstadt Doha konnten damals westliche Diplomaten, Regierungsmitarbeiter und afghanische Sicherheitskräfte von Kabul aus ausfliegen. Die Taliban unterhielten ein Büro in Doha, wo sie auch mit deutschen Vertretern sprachen.

    In der Kaplanstraße in Tel Aviv hängen Plakate von verschleppten Geiseln.
    In der Kaplanstraße in Tel Aviv hängen Plakate von verschleppten Geiseln. © Funke Foto Services | André Hirtz

    „Katar führt direkte Verhandlungen mit Israel und der Hamas“, heißt es in Doha

    Der Kanzler hatte den Emir von Katar bei dessen Visite vor einer Woche in Berlin ausdrücklich gebeten, seine Kommunikationswege zur Hamas für die Freilassung der Geiseln zu nutzen. Der politische Arm der Hamas hat in Doha ein Büro, das von Ismail Hanija geleitet wird. Katar finanziert im Gazastreifen, in dem die Hamas das Sagen hat, das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNRWA), Krankenhäuser und Infrastruktur-Projekte. Das Emirat macht geltend, dass alle Gelder in Abstimmung mit Israel überwiesen würden. „Jerusalem will eine völlige Verelendung mit der Gefahr einer weiteren Radikalisierung vor allem der jungen Bevölkerung verhindern“, heißt es in Doha. Ob und wie viele der Mittel – möglicherweise über Umwege – doch an die Hamas fließen, ist offen.

    Katar sieht sich bei der Frage der Entführten in einer Vermittlerrolle. „Viele Regierungen haben sich an unser Land gewandt, sich für die Freilassung der Geiseln einzusetzen und mit der Hamas zu reden“, sagte ein hochrangiges Mitglied der katarischen Regierung unserer Redaktion. „Katar führt direkte Verhandlungen mit Israel und der Hamas.“

    In Doha ist man optimistisch, dass die Islamisten zumindest einen Teil der Verschleppten bald ausreisen lassen. „Die Hamas hat Katar zugesagt, sie sei bereit, alle zivilen Geiseln freizulassen. Katar hatte dies zuvor gefordert“, erklärte der Regierungsbeamte. Laut Doha will die Hamas nach einem „gestuften Freilassungsverfahren“ vorgehen. Demnach soll zuerst zumindest ein Teil der ausländischen Zivilisten freigelassen werden, in einem nächsten Schritt könnten auch einige israelische Zivilisten freikommen.

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    Israel spricht von 203 Geiseln, die Hamas von rund 150

    Die Gesamtzahl der Geiseln hat die israelische Regierung am Donnerstag auf 203 nach oben korrigiert. Katarische Regierungskreise unterstreichen, dass die Hamas nach eigenen Angaben nur etwa 150 Geiseln in ihrer Gewalt habe. Hinzu kämen zwischen 50 und 100 Geiseln, die unabhängig von der Hamas entführt worden seien. „Das sind Menschenschmuggler aus dem Gazastreifen, die Geld erpressen wollen“, heißt es in Katar.

    Die mögliche Freilassung der Geiseln scheint bislang auch an logistischen Problemen gescheitert zu sein. „Die Hamas will eine dreistündige Feuerpause, um die Geiseln zu identifizieren, sie von verschiedenen Orten einzusammeln und nach Rafah an der Grenze zu Ägypten zu bringen“, betonte der katarische Regierungsbeamte. „Israel lehnt dies ab. Begründung: Die Geiseln sollten zunächst alle an einen Platz gebracht werden.“

    Von unseren Reportern in Israel

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    In Israel gibt es Überlegungen, dass die Hamas aus taktischen Gründen ein Interesse an der Freilassung von Ausländern haben könnte. „Ich vermute, dass die Hamas einen gewissen Anreiz hat, die allermeisten Geiseln mit nicht-israelischen Pässen freizulassen“, sagte der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak unserer Redaktion. Damit wollten die Islamisten den „Stempel einer IS-ähnlichen Organisation“ ablegen, den sie seit den „grauenhaften, barbarischen Massakern“ trügen. „Allerdings haben sie dann immer noch genug israelische Geiseln, um eine Tragödie hervorzurufen“, so Barak.

    Die Hamas behauptet, auch israelische Generäle in ihrer Gewalt zu haben

    Zunächst dürfte die Hamas jedoch einen makabren Geisel-Poker vom Zaun brechen. Die Gruppierung behaupte, rund 80 israelische Soldaten entführt zu haben, darunter auch Generäle, unterstreichen katarische Regierungskreise. Für die Freilassung der israelischen Armeeangehörigen werden die Islamisten versuchen, einen sehr hohen Preis zu erzielen. 2006 hatte die Hamas den israelischen Soldaten Gilad Shalit in den Gazastreifen entführt. Nach fünfjährigen Verhandlungen wurde er 2011 nach Israel überstellt – im Gegenzug wurden 1027 palästinensische Häftlinge freigelassen.

    Die Geisel-Frage wird allerdings vom Szenario einer israelischen Bodenoffensive überschattet. In Doha ist die Angst vor einer unkontrollierten Ausweitung des Konflikts hoch. „Im Falle einer israelischen Bodenoffensive nach Gaza oder in den Libanon wäre es für viele Akteure in der Region sehr schwer, still zu bleiben“, warnte der katarische Regierungsbeamte. „Wenn es zu einer Eskalation kommt, öffnen wir die Büchse der Pandora mit der Gefahr eines großen Krieges.“