Berlin. Die WHO schlägt Alarm: Kinder bewegen sich zu wenig – das hat Folgen für die Gesundheit. Eine Expertin erklärt, was Eltern tun können.

Körperliche sowie psychische Erkrankungen bei Kindern sind durch Mangel an Bewegung erheblich gestiegen. Das ergaben Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Ulrike Burrmann ist Universitätsprofessorin und Leiterin der Abteilung Sportpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht unter anderem zu sportbezogener Sozialisation von Heranwachsenden. Im Interview beleuchtet sie die Hintergründe der jüngsten Studien und zeigt Wege auf, wie Eltern ihren Kindern helfen können. Außerdem erklärt sie, warum Mädchen im Schnitt weniger aktiv sind als Jungs.

Frau Burrmann, alarmierende Studien zeigen, wie sehr Bewegungsmangel Kindern und Jugendlichen schaden kann. In welchem Kindesalter ist eine regelmäßige Bewegung denn besonders wichtig?

Ulrike Burrmann: Je jünger die Kinder sind, umso wichtiger ist die alltägliche Bewegung. Die WHO empfiehlt 60 Minuten körperliche Aktivität pro Tag. Bei Kindern zwischen vier und sechs Jahren spricht sich die BZgA sogar für 180 Minuten pro Tag aus – ob sie nun gemeinsam mit den Eltern spazieren gehen oder im Freien spielen. Das stärkt die körperliche und auch mentale Gesundheit. Natürlich gilt das nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern für alle Menschen.

Woran erkennen Eltern denn, dass sich ihr Kind zu wenig bewegt? Gibt es typische Warnzeichen?

Burrmann: Häufig sind es Kinder, die viel sitzend erledigen und oft Medien konsumieren. Auch dazu gibt es übrigens Empfehlungen der WHO beziehungsweise BZgA. Dabei spielen soziale Medien inzwischen eine große Rolle, besonders seit der Corona-Pandemie. Zwar kommunizieren Kinder im Chat mit Gleichaltrigen – trotzdem fehlt die körperliche Aktivität und der direkte soziale Austausch. Früher oder später kann es zu einem geringeren Wohlbefinden, Vereinsamung und Stresssymptomen führen.

Bewegungsmangel bei Kindern: „Fängt schon morgens vor der Schule an“

Gibt es einen besonderen Sport, für den Eltern ihre Kinder zur Stressbekämpfung begeistern können?

Burrmann: Im Mannschaftssport beispielsweise lernen Kinder gemeinsam, Probleme zu lösen, Regeln zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen und sich gegenseitig, aber vor allem sich selbst zu vertrauen. Der Umgang mit Leistungen, Erfolgen und Niederlagen ist wichtig für das Leben außerhalb des Sports. Und zugleich zeigen Studien: Junge Leute, die regelmäßig sportlich interagieren, haben ein geringeres Stressempfinden. Sie sind körperlich und psychisch gesünder. Natürlich fällt es Eltern von kleineren Kindern durchaus noch leichter, Routinen der Kinder zu verändern und die Zeit am Handy durch eine aktive Freizeitgestaltung einzutauschen. Bei Jugendlichen ist es nicht mehr so leicht.

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt 60 Minuten Bewegung am Tag für Kinder und Jugendliche – nur wenige kommen an die Vorgabe heran. Das zeigen jüngste Studien.
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt 60 Minuten Bewegung am Tag für Kinder und Jugendliche – nur wenige kommen an die Vorgabe heran. Das zeigen jüngste Studien. © dpa | Frank Rumpenhorst

Wahrscheinlich fehlt Eltern auch oft die Zeit, auf die Jugendlichen einzuwirken.

Burrmann: Ganz genau. Hier gebe ich den Hinweis, dass Verbote bei älteren Kindern meistens nichts bewirken. Vielmehr sollten sich Erziehungsberechtigte fragen, wie sie das gewünschte Verhalten, zum Beispiel sich mehr zu bewegen, sowie die Routinen ihres Kindes mit gewissen beliebten Aktivitäten kombinieren können. Inzwischen gibt es Apps, über die Jugendliche miteinander kommunizieren und gleichzeitig zu gemeinsamen Sportübungen angeleitet werden. Das ist ein Anfang.

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Aber auch da stellt sich die Frage, wie Bewegung bei Kindern und Jugendlichen zur Routine wird, wenn sie einem vollen Stundenplan bis in den Nachmittag folgen und danach noch Hausaufgaben erledigen müssen.

Burrmann: Alltägliche Bewegung fängt nicht erst bei Sportübungen an, sondern schon morgens vor der Schule. Fährt das Kind mit dem Bus oder seinem Fahrrad? Muss ich es wirklich mit dem Auto abholen oder kann es bei einer kurzen Distanz nach Hause laufen? Allein die paar Schritte mehr machen viel aus. In den Schulen selbst gibt es am Nachmittag durchaus sportliche Angebote, die Kinder wahrnehmen können. Und auch Bewegungspausen tragen dazu bei, sich wieder verstärkt auf die Hausaufgaben konzentrieren zu können.

An den meisten deutschen Schulen haben die Schüler drei Stunden Sport pro Woche. Machen die Schulen zu wenig? Und wie können sie aktiver werden?

Burrmann: Wenn es beim Stundenausfall nicht immer den Sportunterricht trifft, wenn Bewegung auf den Schulhöfen möglich ist, bewegte Pausen in den Alltag integriert, im Ganztag Bewegungs- und Sportangebote unterbreitet und freie Spielmöglichkeiten geschaffen werden, ist schon viel getan.

Mädchen bewegen sich weniger als Jungen: Expertin sieht klaren Grund

Also trägt auch der Lehrermangel zum Problem des Bewegungsmangels in Deutschland bei ...

Burrmann: Ich sprach zu Anfang von den täglich empfohlenen 180 Minuten Bewegung für Kinder. Die Studien belegen, dass sich lediglich ein Drittel der Jungs und sogar nur ein Viertel der Mädchen – sowohl in Deutschland als auch international – nur bis zu 60 Minuten am Tag bewegen. Das ist zu wenig.

Professorin Ulrike Burrmann lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin in der Sportpädagogik. Im Interview berichtet sie über die Folgen der jüngsten WHO-Studie, die international ein Bewegungsdefizit bei Kindern und Jugendlichen festgestellt hat.
Professorin Ulrike Burrmann lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin in der Sportpädagogik. Im Interview berichtet sie über die Folgen der jüngsten WHO-Studie, die international ein Bewegungsdefizit bei Kindern und Jugendlichen festgestellt hat. © Ulrike Burrmann | Privat

Durchschnittlich bewegen sich also viel weniger Mädchen als Jungs. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Burrmann: Das ist gesellschaftlich bedingt. Schon von klein auf werden Mädchen oft mehr behütet als Jungs, wodurch ihnen unbewusst ein Stück weit der Bewegungsraum genommen und somit das Aktivitäten-Spektrum eingeschränkt wird. Sie dürfen teilweise länger draußen bleiben und sich weiter von zu Hause wegbewegen. Außerdem zielen gewisse Sportarten, beispielsweise in den Medien, mehr auf Jungen ab. Zum einen hat es etwas damit zu tun, dass es vorwiegend männliche Vorbilder im Sport gibt. Und zum anderen weichen Mädchen durch ihre Erziehung potenziellen Konflikten wie Wettkämpfen häufiger aus als Jungen. Wir brauchen also mitunter mehr Sichtbarkeit weiblicher Vorbilder im Sport.

Gehen wir einen Schritt weiter und fragen uns: Was tun, wenn mein Kind aufgrund von Bewegungsmangel bereits gesundheitliche Schäden genommen hat?

Burrmann: Dann muss der Hausarzt helfen. Langfristig können wir feststellen, dass mehr Kinder an Übergewicht und Adipositas erkranken. Auch die Zahl von Diabetes im Kindesalter ist angestiegen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Natürlich spielt die Ernährung eine erhebliche Rolle. Die rein alltägliche Bewegung darf jedoch nicht unterschätzt werden.

„Kinder mit sportlichen Eltern sind ebenfalls aktiver“

Diese Ergebnisse könnten Eltern erschrecken.

Burrmann: Es bringt nichts, sich deswegen unter Druck zu setzen. Eltern sollten in erster Linie schauen, ob sie sich selbst genug bewegen. Auch da zeigen Untersuchungen, dass Kinder mit sportlichen Eltern ebenfalls aktiver sind. Sie melden ihre Kinder häufiger bei Sportvereinen an und kümmern sich am Wochenende um eine aktive Freizeitgestaltung.

Diese Probleme und Lösungsvorschläge sind schon jahrelang bekannt. Warum ändert sich nichts?

Burrmann: Ein sportlich aktiver Lebensstil verändert sich nicht so leicht. Insofern muss man dranbleiben und einen langen Atem haben. Vor allem müssen niederschwellige Angebote für Familien entwickelt werden.

Können Sie den Eltern konkrete Tipps mit auf den Weg geben?

Burrmann: Am besten startet man zu Anfang mit einem Bewegungs-Tagebuch. Eltern schreiben darin ihre eigenen Routinen und die ihrer Kinder auf. Und zugleich überlegen sie, wie und an welchem Wochentag sie selbst aktiver werden können, und wie sie ihre Kinder einbinden können.

Ist es nicht sehr unrealistisch, dass Eltern dafür Zeit haben?

Burrmann: Der Aufwand lohnt sich und dauert gar nicht so lang. Zudem gibt es Fitnesstracker und Handy-Apps, die genutzt werden können. Auch Elterngruppen können sich untereinander austauschen.

Wie werden denn Kleinkinder und Kita-Kinder unterstützt?

Burrmann: Für die ganz Kleinen gibt es tolle Angebote von verschiedensten Einrichtungen. Ob es nun das Baby-Schwimmen ist, Mutter-Kind-Turnen oder angeleitete Spiel- und Sportprogramme. Da sollten sich Eltern früh erkundigen, damit ihr Kind seine notwendigen motorischen Fähigkeiten entwickeln kann. Außerdem halten sie sich selbst fit.

Es kommt also auf die Familie an?

Burrmann: So ist es. Binden Eltern ihre Kinder von klein auf in Bewegungs- und Sport-Routinen mit ein und suchen sie frühzeitig sportliche Angebote, ist alles in Ordnung. Sie sollten gemeinsame Aktivitäten planen und nicht verzweifeln, wenn es mal einen Tag nicht mit dem Ausflug klappt. Außerdem rate ich zu den Empfehlungen der BZgA, Säuglingen und Klenkindern gar keine Medienzeit zuzugestehen und den Kindergartenkindern maximal 30 Minuten am Tag. Zu guter Letzt: Mädchen brauchen mehr Bewegungsspielräume. Und man sollte ihnen mehr zutrauen.