Berlin. Sitzen wir im Herbst alle wieder mit den Kindern daheim? Diese Frage bewegt viele Eltern. Man müsse alles tun, um das zu vermeiden, sagt ein renommierter Kinderarzt. Jeder kann seinen Beitrag leisten.

Mit dem Herbst beginnt die Saison der Halsschmerzen und Schniefnasen - und damit für viele Familien in diesem Jahr wohl wieder eine besonders belastende Zeit. Denn die Pandemie ist ja auch noch da, mit allen Begleiterscheinungen.

Viele Eltern blicken jedenfalls mit Sorge auf die kommenden Monate. Sie fragen sich nicht nur: Bleiben die Schulen und Kitas auf?

Denn da ist noch ein anderes Problem: Weil im vergangenen Winter viele Infektionskrankheiten, etwa die Influenza, kaum zum Ausbruch kamen, beobachten Fachleute gerade bei kleinen Kindern momentan einen Nachholeffekt bei Atemwegserkrankungen. Deren Immunsystem ist nun oft besonders anfällig für solche Infektionen. Das bekommen viele Familien jetzt schon zu spüren.

Damit Eltern und Kinder gut durch die nächsten Monate kommen, sind alle Menschen gefragt, sagt der Präsident der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Professor Jörg Dötsch, im Interview mit dem dpa-Themendienst.

Herr Prof. Dötsch, viele Mütter und Väter schauen mit Sorge auf dem Herbst: Es gehen wieder mehr Infektionskrankheiten um, die Kinder unter zwölf Jahren sind nicht geimpft. Sitzen wir dann wieder alle ständig mit den Kids daheim?

Jörg Dötsch: Das ist eine Frage, die viele bewegt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir alles tun, um so eine Situation zu vermeiden. Also, dass wir die etablierten Hygieneregeln - Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz tragen, lüften - weiter konsequent anwenden.

Zweitens ist es wichtig, dass alle, die es können und für die es empfohlen ist, sich gegen Covid-19 impfen lassen. Selbst wenn man es nicht allein wegen seines Gesundheitsrisikos macht: Diejenigen, die sich impfen lassen, können dazu beitragen, dass andere, die sich nicht impfen lassen können, geschützt sind. Das sind oft die empfindlichsten Gruppen. Außerdem ist wichtig, weiter Testungen durchzuführen, vor allem an Schulen.

Wenn wir diese drei Maßnahmen gut beherzigen, können wir die Quarantäneregeln lockern und dafür sorgen, dass nicht mehr ganze Klassen oder vielleicht nicht mal mehr der Sitznachbar in Quarantäne müssen bei positiven Fällen. Nur mit der Einhaltung der Maßnahmen können wir verhindern, dass die Eltern im Herbst und Winter nicht wieder oft mit ihren Kindern daheimsitzen müssen.

Das Problem betrifft ja auch die Kitas. Und gerade die Kleinen holen jetzt wieder verstärkt Infekte nach, weil ihr Immunsystem im vergangenen Winter durch die häufige Isolation kaum trainiert wurde. Wie sollen Eltern das im Herbst und Winter hinbekommen, wenn die verschnupften, aber sonst vielleicht gesunden Kinder nicht in die Kita können?

Dötsch: Das ist eine enorme Belastung. Da ist es wichtig, dass die Gesellschaft die Familien in allen erdenklichen Formen unterstützt. Dass das also in den Arbeitsstellen akzeptiert wird. Dass die Familien, wo immer es nötig und möglich ist, Unterstützung angeboten bekommen, zum Beispiel beim Einkaufen. Das schafft man nur mit einem guten sozialen Netz. Gegenseitige Hilfe ist da unheimlich wichtig.

Was hätte es für Folgen für Familien, wenn sie wieder häufiger daheim in Isolation sind?

Dötsch: Das hängt stark davon ab, wie resilient sie sind - also wie widerstandsfähig sie auf unangenehme Dinge, die auf sie einprasseln, reagieren. Und es kommt auf die Lebensumstände an: Für eine Familie mit großzügigem Wohnraum und Garten ist das wahrscheinlich wesentlich einfacher zu schaffen als für eine Familie, die auf engen Raum zusammenlebt.

Sorgen machen uns die Auswirkungen auf die Kinder: Gerade diejenigen, die durch den Besuch der Kita und Schule soziale Grenzen überwinden, werden durch Isolation daheim daran gehindert. Und dann sehen wir natürlich die körperlichen Folgen. So haben etwa in Folge der Einschränkungen des vergangenen Winters viel mehr Kinder als sonst Übergewicht entwickelt.

Eigentlich heißt es ja landläufig, dass eine laufende Nase kein Grund ist, dass ein Kind nicht zur Kita oder in die Schule gehen kann. Wie beurteilen sie das?

Dötsch: Alles, was auf eine Covid-19-Infektion hinweisen könnte, sollte dazu führen, dass das Kind nicht in die Kita geht. Ich habe selbst Kinder, ich weiß, wie schwer das ist. Aber um Quarantänen zu vermeiden und dass andere Kinder und ihre Familien womöglich in Mitleidenschaft gezogen werden, sollte man das nicht machen. Bei Atemwegssymptomen wie Schnupfen und Husten, aber etwa auch bei Magen-Darm-Problemen sollte das Kind deshalb in dieser Zeit zu Hause bleiben.

Ohnehin immer daheimbleiben sollte das Kind, wenn es in seiner Aktivität beeinträchtigt ist - also wenn es sich wirklich krank fühlt - und wenn es Fieber hat. Fieber kann aufs Herz gehen, wenn man den Körper belastet. Deshalb sollte ein fieberndes Kind generell weder in die Kita noch in die Schule oder zum Sport. Sondern sich daheim auskurieren.

Manche Kitas sind sehr streng und schicken jedes Kind mit leichtesten Erkältungssymptomen nach Hause. Andere sagen, dass das Kind mit laufender Nase kommen darf - sofern es einen negativen Corona-Test vorweist. Was halten Sie davon?

Dötsch: Im Prinzip ist das eine Möglichkeit, um etwas Gewissheit zu haben. Aber da müsste man schon einen PCR-Lolly-Test anwenden, weil der Antigen-Schnelltest für Kinder zum einen bei der Abnahme viel unangenehmer ist und zum anderen nicht sehr verlässliche Ergebnisse liefert.

Es ist uns bewusst, dass das sehr unterschiedlich gehandhabt wird momentan. Möglicherweise wird das auf politischer Ebene bald besprochen, um hier ein möglichst einheitliches Vorgehen auf den Weg zu bringen.

Manche fragen sich, ob ihr Kind vielleicht schon versteckt eine Corona-Infektion durchgemacht hat. Gibt es dafür offensichtliche Anzeichen?

Dötsch: Nein, die gibt es nicht. Hinweise könnte man nur durch eine Blutentnahme bekommen, um dann einen Antikörpertest zu machen. Das sollte man aber auch aus meiner Sicht nicht tun. Die Blutabnahme ist eine Schmerzerfahrung für die Kinder, die man auch sonst sehr sorgfältig abwägen muss.

Kinder erkranken sehr selten schwer an Covid-19 und gelten auch nicht als starker Faktor für das Pandemiegeschehen. Das sorgt dafür, dass mitunter Eltern mit den Achseln zucken und sagen: "Ist ja nicht schlimm, wenn sich das Kind ansteckt." Wie sehen Sie das?

Dötsch: Das ist zu leichtfertig gedacht. Auch wenn wir sagen, die Kinder sind nicht hochgefährdet: Jeder vermeidbare Krankenhausaufenthalt, jede vermiedene Krankheit, jede vermiedene Quarantäne ist ein Gewinn. Wir sollten nicht wollen, dass sich die Kinder mit Sars-CoV-2 anstecken.

Abschließend, welche Tipps haben Sie für Eltern und Kinder, um mögliche Quarantänezeiten im Herbst und Winter gut zu überstehen?

Dötsch: Ganz wichtig ist, das soziale Netz zu nutzen. Alle im Umfeld - Oma, Opa, enge Freunde - sollten unterstützen. Wenn man feststellt, dass man an Belastungsgrenzen kommt, sollte man sich rechtzeitig Hilfe suchen. Wer den Kontakt zu psychologischen Stellen scheut, kann erst mal auch die Kinderärztin oder den Kinderarzt ansprechen. Denn die praktischen Tipps sind oft individuell. Das heißt: Die Musterlösung für alle gibt es nicht. Man muss sich jedes Kind und jede Familie einzeln anschauen.

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