Berlin. Obwohl Experten viele Kaiserschnitte für unnötig halten, stagnieren die Raten seit Jahren auf hohem Niveau. Erstmals soll es eine Leitlinie geben.

An die ständige Anwesenheit der neuen Chefärztin mussten sich die Hebammen im Krankenhaus Porz am Rhein erst gewöhnen. Immer war sie dabei, stand im Kreißsaal und am Patientenbett, statt in ihrem Büro zu sitzen. So erzählt es Patricia Van de Vondel, die Chefärztin. „Ich wollte ihnen zeigen, dass es in vielen Fällen eine Alternative zum Kaiserschnitt gibt“, sagt Van de Vondel. Die Geburtsmedizinerin hat es geschafft, innerhalb von zehn Jahren, seit sie an die Klinik kam, die Kaiserschnitt-Rate in ihrem Haus von 42 auf 25 Prozent der Geburten und damit unter den Bundesdurchschnitt zu senken.

Noch immer kommt in Deutschland fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt, auch Sectio genannt, auf die Welt – eine Verdopplung von 1994 bis heute. Forscher schrieben im Fachjournal „The Lancet“ 2018 von einer „Kaiserschnitt-Epidemie“, die es in einigen Ländern gebe.

„Es wird zu häufig unnötig in den natürlichen Geburtsprozess eingegriffen“

Nachdem die Zahlen hierzulande über Jahrzehnte gestiegen sind, stagnieren sie nun – „auf zu hohem Niveau“, sagen Expertinnen wie Ulrike Hauffe, stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrates der Krankenkasse Barmer, die viele Jahre als Medizinpsychologin in der Geburtshilfe gearbeitet hat. „Es wird zu häufig unnötig in den natürlichen Geburtsprozess eingegriffen“, sagt sie. Mit gesundheitlichen Folgen für Mutter und Kind.

So zeigen Studien einen Zusammenhang zwischen Kaiserschnitt-Geburten und einem erhöhten Risiko für Allergien, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Adipositas oder entzündliche Darmerkrankungen bei den Kindern. Die Mutter hat als Folge der Operation ein erhöhtes Thromboserisiko, die Gefahr für Komplikationen bei der nächsten Geburt steigt.

Historische Gründe für Anstieg der Kaiserschnitt-Rate

„Viele Zusammenhänge lassen sich noch nicht, vielleicht niemals zu 100 Prozent beweisen“, sagt Van de Vondel, „aber solange das theoretische Risiko besteht, dass Kinder Langzeitfolgen durch eine Kaiserschnitt-Geburt erleiden könnten, sollten wir Kaiserschnitte nur bei zwingender Indikation durchführen.“

Der Anstieg der Kaiserschnitt-Rate lasse sich historisch erklären, sagt Van de Vondel. So sei die Überwachung des Ungeborenen überhaupt erst seit den 1960er-Jahren möglich. Vorher sei eine Sectio nur bei einer drohenden Gefahr für die Mutter durchgeführt worden. „Heute stagniert die Rate, weil wir merken, wir machen den Schwangeren, deren potenziellen weiteren Kindern und uns selbst damit Schwierigkeiten“, sagt Van de Vondel. Kein Arzt freue sich auf die dritte oder weitere Sectio bei einer Frau, „das sind heikle Operationen mit einem hohen Komplikationsrisiko“.

Kaiserschnitt wird immer noch besser vergütet als vaginale Geburt

Im Krankenhaus Porz am Rhein musste die Medizinerin für einen Mentalitätswandel einiges in Bewegung setzen. Sie sorgte zum Beispiel dafür, dass immer ein Oberarzt vor Ort ist und nicht nur per Rufbereitschaft zur Verfügung steht.

„Die Erfahrenen gehören Tag und Nacht in den Kreißsaal“, sagt Van de Vondel. Denn viele schwierige Verläufe deuteten sich frühzeitig an und ließen sich noch abwenden. „Und die jüngeren Kollegen lernen so von den erfahrenen, wie man eine zunächst schwierige Geburt wieder in richtige Bahnen lenkt.“ Dann sei auch eine Geburt in Beckenendlage nicht von vornherein ein Grund für einen Kaiserschnitt.

Ein Baby wird per Kaiserschnitt auf die Welt geholt.
Ein Baby wird per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. © istock

Ein Wandel braucht Überzeugungsarbeit

Doch ein Wandel braucht Überzeugungsarbeit und einen langen Atem. Denn neben ökonomischen Herausforderungen – der Kaiserschnitt wird noch immer besser vergütet als die vaginale Geburt, für die gleichzeitig auch mehr Personal aufgewendet werden muss – müssen auch Denkmuster durchbrochen werden.

„Es gibt in der Medizin immer so etwas wie eine Hausmeinung, nach der sich das Personal dann verhält“, sagt Ulrike Hauffe. Und vermeintliche Gründe, die einen Kaiserschnitt rechtfertigten, gebe es immer: Die Kinder werden größer, die Mütter älter, eine natürliche Geburt in Beckenlage ist riskant, ein vorangegangener Kaiserschnitt hat beim zweiten Kind zwingend wieder einen Kaiserschnitt zur Folge. „Der Arzt geht von seinem Selbstverständnis her immer auf Risikosuche, und das überträgt er auch auf die Geburtshilfe“, sagt Hauffe. In Deutschland gebe es eine angstbesetzte Geburtsmedizin, die Komplikationen in jedem Fall ausschließen will.

Nur wenige Frauen gebären ohne Interventionen

Dabei ist die Geburt ein normaler physiologischer Prozess. Die meisten Frauen sind in der Lage, ihr Kind auf natürlichem Weg zu gebären. Ohne Einsatz der Saugglocke, ohne Dammschnitt, Wehenmittel, Anästhesie oder Sectio. Auch die Weltgesundheitsorganisation forderte im vergangenen Jahr ein Zurück zu mehr natürlichen Geburten.

Aber die Zahlen zeigen: Nur die wenigsten Frauen gebären ohne Interventionen. So erfolgt nur bei 8,2 Prozent aller Gebärenden in Deutschland, die ein geringes Risiko für Komplikationen während der Geburt haben, die Geburt auf natürliche Weise.

Es gehe darum, eine Haltung zu verändern, sagt Hauffe. Sie war als Vertreterin der Frauenministerien der Länder an der Entwicklung des nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ beteiligt, das eine selbstbestimmte Schwangerschaft und Geburt zum Ziel hat.

„Die Geburtshelferinnen und Ärzte müssen lernen, die Gebärenden zu lesen, ihre Signale wahrzunehmen und zu interpretieren“, sagt Hauffe. Auf diese Weise sei es auch gelungen, in Level-1-Zentren, also Kliniken mit einem hohen Anteil an Risikoschwangerschaften, die Kaiserschnitt-Raten zu senken.

Erste Leitlinie zu Kaiserschnitten soll im Herbst vorgestellt werden

Grundsätzlich ist die Sectio ein wichtiges Instrument in der Geburtshilfe. Darin sind sich die meisten Geburtsmediziner einig. Sie kann Leben retten und Mutter und Kind vor Schäden bewahren. In vielen Teilen der Welt steht der Kaiserschnitt sogar zu wenigen Frauen zur Verfügung. Hierzulande aber ließen sich die hohen Sectio-Raten nicht medizinisch begründen, sagt Ulrike Hauffe.

Eine Zahl macht das deutlich: 90 Prozent der Entscheidungen für oder gegen einen Kaiserschnitt finden laut Hauffe in einer Grauzone statt. „Und es gibt für den Kaiserschnitt bislang nicht einmal eine medizinische Leitlinie. Das ist doch sehr bezeichnend.“

Experten arbeiten erstmals an einer medizinischen Leitlinie für die Sectio

Das zumindest wird sich bald ändern. Seit anderthalb Jahren arbeiten Experten erstmals an einer medizinischen Orientierungshilfe für die Sectio. Die Leitlinie ist fertig und soll im Herbst vorgestellt werden. Darin wird zum Beispiel stehen, dass eine vorangegangene Sectio kein Grund für eine nachfolgende ist.

Doch nicht nur bei den Ärzten braucht es einen Mentalitätswandel, sagen die Expertinnen. Auch die Frauen müssten Vertrauen in ihren Körper haben. „Viele werdende Mütter fürchten sich vor der Geburt“, erzählt Van de Vondel. Vor den Schmerzen, davor, die Kontrolle abzugeben, aber auch vor Langzeitschäden wie einem schwachen Beckenboden. „Ich bin keine Esoterikerin, aber wenn sich eine Frau auch nach ausführlicher Beratung absolut keine vaginale Geburt vorstellen kann, wird sie sich während der Geburt auch nur schwer dafür öffnen können.“ Deswegen müsse sich das Bild der Geburt verändern – bei Ärzten und Gebärenden.