Wittenberg/Magdeburg/Erfurt. Der neue Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland Friedrich Kramer im Gespräch über Glaube, AfD-Attacken und die Angst vor der Islamisierung.

An diesem Samstag, 7. September, wird Friedrich Kramer in sein Amt als Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland im Magdeburger Dom eingeführt.

Was haben Sie sich für Ihre Amtszeit vorgenommen?

Ich glaube, wir müssen den Ruf der Kirche verbessern. Und das ist gar nicht einfach, auch wenn unser Ruf nicht schlecht ist. Wir machen großartige Arbeit, haben tolle Mitarbeiter. Wir leisten uns knapp tausend Liebespredigerinnen und -prediger, die für ein gemeinsames Leben in dieser Gesellschaft einstehen; ein Leben, das diese Gesellschaft auch braucht und was über Kirche hinaus hohe Relevanz und Zukunft hat.

Wo steht die EKM denn jetzt?

Wir sind eine Kirche im Umbruch, mit ganz vielen Enttäuschungen. Menschen sagen: Seit 100 Jahren geht es hier abwärts. Wir werden immer weniger. Früher hatten wir einen Pfarrer ganz für uns, dann eine halbe Pfarrstelle, jetzt sind wir mit vielen anderen Gemeinden zusammen. Das vermittelt den Ruf, wir seien eine absterbende Kirche.

Aber?

Friedrich Kramer,  neuer Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
Friedrich Kramer,  neuer Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland © Gerlinde Sommer

Wir werden weniger, das stimmt. So sind wir im demografischen Schaubild eher eine Palme als eine Tanne. Aber diese Palme steht auf sehr stabilem Fuß. Es ist ja nicht so, dass wir massive Einbrüche bei den Taufen hätten oder viel weniger Menschen eintreten. Aber zum einen sterben die geburtenstarken Jahrgänge der Gläubigen - und zum anderen haben wir den Kirchenkampf der 1950er Jahre an vielen Stellen verloren. Anders als im katholischen und im orthodoxen Bereich kann man in ehemals sozialistischen Ländern sehen, dass die Rückkehr bei den Protestanten nicht stattfindet.

Wie erklärt sich dieser Unterschied?

Der Protestantismus ist eine Gewissensreligion. Und das heißt: Auch wenn jemand zunächst gegen sein Gewissen die Kirche verlassen hat, hat er später im Rückblick sein Gewissen angepasst und sagt heute: Kirche hat sich für mich erledigt. Das ist psychologisch ein interessanter Prozess.

... der dazu führt, dass Menschen sich selbst die Rückkehr in die Kirche verunmöglichen?

Es ist ganz schwer, diese Menschen wieder zu gewinnen. In der Zwischenzeit haben wir es mit der dritten und vierten unkirchlichen Generation zu tun. Diese Menschen sind offener. Wir brauchen eine Kirche, die einen guten Ruf hat und Menschen Lust macht, mitzumachen. Wir wollen zeigen, dass Kirche Zukunft hat, dass sie großartige Werte vermittelt und von Liebe, Hoffnung und Vertrauen handelt. All das ist ja für ein gelingendes Leben zentral.

Die Kirche war 1989 Teil des Widerstandes ...

... und gehörte nicht zum System.

Und heute?

Wir werden als Teil des Systems wahrgenommen. Darauf zielt etwa das AfD-Papier ab, das eine vermeintlich unheilige Allianz mit den Mächtigen früher und heute unterstellt. Das ist natürlich völliger Quatsch. Es handelt sich um den bösartigen Versuch einer Spaltung zwischen Kirchenleitung und Gemeinden. Dabei weiß jeder: Wir waren keine Staatskirche und wir sind auch jetzt keine Staatskirche. Wir sind eine freie Kirche und ein großer gesellschaftlicher Träger, der für alle Menschen offen ist, egal welcher politischen Einstellung, so lange sie sich den christlichen Werten und dem Evangelium anschließen wollen.

Warum attackiert die AfD gerade im Osten die Kirche so?

Es deutet vieles auf einen Schulterschluss mit der antikirchlichen Fraktion hin. Es sind beispielsweise viele vormalige Linke-Wähler zur AfD gewechselt. Umso mehr sollten sich Christen überlegen, ob sie eine antikirchliche Partei wählen wollen. Da ist Wachsamkeit und Klarheit gefragt.

Der Vorwurf, die Kirche agiere parteipolitisch, zielt nicht nur auf die vermeintliche Nähe zur CDU sondern auch auf die Grünen, wenn die EKM etwa auch innerkirchlich umstritten eine Petition zu Tempo 130 auf Autobahnen startete ...

Man kann darüber streiten, ob das Thema Tempo 130 so glücklich war. Es hat jedenfalls viel Stimmung gemacht. Und wir haben dabei eine Menge gelernt und werden das auswerten, sowohl was das für den Umgang unserer kirchlichen Organe untereinander als auch für unsere Kampagnenfähigkeit bedeutet. Ich finde den Ansatz gut, zu sagen, wir kümmern uns als Kirche nicht nur um Glauben und Gemeinde, sondern wir sprechen auch bei gesellschaftlichen Themen mit. Und die ökologische Krise ist ein gesamtgesellschaftliches Thema von hoher Dringlichkeit. Aber wir sind natürlich auch Kirche für alle. Also auch für die Raser. Das heißt: Wir dürfen nicht zu einer moralisch verengten Kirche werden, gerade dann, wenn es um politische Fragen geht.

Die AfD hat 2017 zur Bundestagswahl behauptet, Luther würde sie wählen, zugleich wütet sie gegen heutige Kirchenvertreter. Wie gehen Sie mit der AfD um?

Für mich ist erst einmal klar, dass wir auch die Kirche der AfD-Mitglieder und der AfD-Wähler sind. Wie wir auch die Kirche aller anderer Wähler und Nichtwähler sind. Selbst ein NPD-Mitglied darf zu uns in die Kirche kommen und darf seine Kinder taufen, aber wenn jemand ein kirchliches Amt möchte -- also im Gemeindekirchenrat oder in der Synode -- sagen wir in diesem Fall: Das geht nicht, wenn jemand menschenverachtende, menschenfeindliche Positionen vertritt. Das heißt: Ein Christ darf solche Positionen haben, wir sagen aber: Diese Positionen sind falsch. Wer Verachtung und Hass predigt, ist nicht in der Liebe Gottes. Aber wir schließen diese Menschen als Sünder nicht aus, sondern rufen sie zur Buße. Das heißt: Ich werde einem solchen Menschen, ob er jetzt bei der AfD oder bei der NPD ist, das Abendmahl nicht verweigern.

Und woran machen Sie die unterschiedliche Behandlung von NPD- und AfD-Mitgliedern fest?

Für die AfD ist die Position so klar noch nicht auszumachen. Da gibt es verschiedene Flügel, darunter einen besonderen. Es gibt in der AfD viele Grenzüberschreitungen, aber viele der Menschen, die der AfD zuneigen, fühlen sich nicht als nationale Sozialisten. Aber es gibt natürlich auch die Schafe im Wolfspelz bis hin zum Rechtsnationalismus. Die AfD lässt all diese Resonanzräume zu. Die Stärke der AfD im Osten hat viel mit der Entwicklung und den Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre zu tun.

Bewegt sich denn die AfD noch im demokratischen Spektrum?

Das wird von vielen Beobachtern bestritten, gerade wenn man den Flügel und hier insbesondere die AfD von Björn Höcke in Thüringen anschaut. Das ist eine heiße Debatte. Aber das sind politische Themen, die uns nicht vorrangig beschäftigen und bei denen wir nicht die Ersten sind, die das zu beurteilen haben. Aber wo Hass gepredigt wird statt Liebe, wo Menschen Spaltung wollen statt Gemeinschaft, hat das mit Gott nichts zu tun -- und gegen solche Positionen beziehen wir auch eindeutig Position.

Das heißt für die Entwicklung der AfD?

Wenn sich die Christen in dieser Partei durchsetzen und die AfD eine rechtskonservative Partei à la CSU wird, wird man damit leben können. Wenn sich die Kirchenhasser und NPD-Nahen durchsetzen, dann werden sie nicht im Gemeindekirchenrat sein können. Aber das können wir jetzt noch nicht entscheiden. Wichtig ist aber immer, dass wir als Kirche nicht Teil einer Partei, sondern dass wir überparteilich sind.

Und was sagen Sie denen, die Angst vor der Islamisierung haben?

Da gibt es ein ganz einfaches Mittel: Tritt in die Kirche ein und taufe deine Kinder.

Wo steht die Kirche im Zusammenhang mit der weltweiten ökologischen Krise?

Unser Auftrag und ein zentraler Bestandteil unseres Glaubens ist es, Gottes Schöpfung zu bewahren. Wir haben uns bereits seit den 1980er Jahren intensiv mit diesen Fragen beschäftigt und sind hier vielfältig engagiert. Besonders freuen wir uns, dass junge Menschen jetzt dafür auf die Straße gehen. Aber weder diese Jugendlichen noch wir sind deswegen eine politische Partei, vielmehr geht es darum, dass politisch das, was Deutschland unterschrieben hat, auch eingehalten wird. Das ist keine Öko-Diktatur, sondern die Einforderung der Vertragstreue.

Alle reden von Nachhaltigkeit. Was bedeutet das für die EKM?

Die Frage ist, was das im konkreten Umgang bedeutet für die Institution: Wie organisieren wir unsere Mobilität? Wie heizen wir unsere Kirchen? Wir stellen bereits unseren Strom, den wir verbrauchen, aus Windenergie her. Aber da heißt es dann schnell, wir seien nur wirtschaftlich interessiert.

Warum gibt es kaum Kirchendächer mit Solaranlagen?

Das geht aus Denkmalschutz- und feuerpolizeilichen Gründen bisher nur sehr schwer. Wenn die Solarzellen sich entzünden, sind sie nicht zu löschen. Aber wenn dieses Problem gelöst ist, dann könnte mehr passieren.

Wollen Sie eine Kirche, die nachhaltig wirkt, oder die durch Events auffällt?

Das ist keine Frage des Entweder - Oder. Ich glaube, als Kirche müssen wir beides machen. Der Gottesdienst muss, und das ist auch eine Frage der Qualität, so gefeiert werden, dass er offen, fröhlich und leichtfüßig ist und die Menschen Lust haben, zu kommen. Wichtig ist, dass man merkt: Hier findet Leben statt. Es braucht darüber hinaus aber auch andere Ereignisse, die die Menschen begeistern. Ich würde das jetzt nicht als Event diffamieren, wenn Kirche schaut, wo sie mit dabei sein kann - und zwar in der ihr eigenen Weise. Das war schon früher etwa bei der Kirmes der Fall. Für mich gibt es noch einen dritten Punkt bei der Nachhaltigkeit.

Und zwar?

Wir müssen eine Kultur entwickeln, die nicht die Defizite beschreibt und stets auf das Wachstum setzt. Wir brauchen eine Kultur des Genug.

Wir sollen genügsam sein?

Ja. Aber dahinter steckt die Überlegung, dass wir uns zunächst fragen: Was genügt uns für ein gutes Leben? Und was können wir womöglich sogar noch abgeben? Und können wir dankbar sein für das, was wir alles schon haben? Wir haben ja das irre Phänomen, dass wir eine extrem reiche Gesellschaft sind -- und dennoch stehen viele Menschen am Rand. Aber auch die, die viel haben, sind oft unzufrieden. Dennoch gibt es Gründe für Dankbarkeit. Und wir wissen doch, dass immer mehr Reichtum gar nicht glücklicher macht.

Das ist eine schwierige Botschaft in einer derart materialistischen Welt...

Aber es ist unsere Botschaft! Das letzte Hemd hat keine Taschen und reich werden bringt letztlich nichts – schon gar nicht, wenn darüber menschliche Beziehungen und Existenzen sowie die Natur zerstört werden. Wer wirklich glücklich werden will, soll seinen Überfluss verschenken. Jesus sagt: Mach dir Freunde mit dem ungerechten Mammon.

Lebt denn die Kirche danach?

Wir bieten jedenfalls vieles umsonst an. Man kann in Gottesdienste gehen, in Chören singen, unsere Kirchen besuchen, wenn sie denn offen sind, wofür wir uns einsetzen ... Ich setze auf den gesellschaftlichen Wandel hin zur Ethik des Genug. Das heißt, auch denen zu helfen, die nicht genug haben, und hier sind Christen sehr aktiv. Und das ist gut protestantisch, denn der Protestantismus schaut nicht zuerst, was alles möglich ist, sondern er setzt auf Nüchternheit und Klarheit, schaut auf die wesentlichen Fragen des Lebens und des Glaubens.

Welche Aufgaben stehen innerkirchlich an?

Wir müssen die Strukturen unserer Entwicklung anpassen. Und das muss mit viel Fingerspitzengefühl und einer hohen Partizipation geschehen. Wir gehen als Kirche auf schwierige Zeiten zu: Wir werden demografisch weniger und wir erleben einen Egoismus, der sich über die Gemeinschaft stellt.

Sie meinen: Christen treten aus Finanzgründen aus der Kirche aus?

Ja. Diesen Menschen ist aber nicht klar, dass eine Gemeinschaft nicht wie bisher bestehen kann, wenn gerade die mittlere Generation ihr den Rücken kehrt. Wer will denn, dass unsere Kirchen eines Tages wieder so aussehen wie zu DDR-Zeiten?!

Wie reagieren Sie auf diese Entwicklungen?

Wir werden -- auch wegen der Belastung unserer Mitarbeiter - noch einmal neu über die Amtsstrukturen nachdenken, wobei wir nicht alles infrage stellen. Es geht darum, nah bei den Menschen zu sein, um für diese erfahrbar und ansprechbar zu sein. Wichtig ist die Stärkung der Seelsorge in der Gemeinde.

Wie lautete eigentlich Ihr Konfirmationsspruch?

„Nicht, dass ich‘s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich‘s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“ Philipper 3,12.

Passt zu Ihrem Leben?

Ja. Ich finde auch schön daran, dass man es noch nicht ergriffen hat, sondern ergriffen wird. Das ist eine Haltung, die ich jetzt auch als Bischof brauche: Wir, die wir in der Kirchenleitung sind, vermitteln nicht die Weisheit von oben herunter, sondern wir suchen, weil wir alle von Christus ergriffen sind, nach alten und neuen Formen, damit Kirche fröhlich ist und das Evangelium kraftvoll vermitteln wird. Dafür brauchen wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zufrieden etwas schaffen können und nicht überlastet sind. Dass wir in einer guten Weise miteinander agieren und die Möglichkeiten ergreifen. Wir haben als Kirche in den vergangenen drei Jahrzehnten extreme Umbruchsituationen erlebt, und wir haben dies als Institution im Osten in vorbildlicher Weise ohne Kündigung und brutale Härten für unsere Mitarbeiterschaft bewältigt. So machen wir das auch weiterhin, wenn es um Kürzungen geht. Sicher ist: Kirche wird es immer geben, denn wir leben nicht von einer Geschäftsidee, sondern wir sind ein Werk Gottes für die Welt.