Kiel. Mein Haus, mein Auto - meine Reise: Viele Deutsche entdecken selbstbewusst die halbe Welt oder zumindest Europa. Wegen Corona müssen sie vorerst Urlaub in Deutschland machen. Und nun?

Mehr als 180 Länder konnten deutsche Staatsbürger vor der Corona-Pandemie visafrei bereisen. Ein paar Stunden fliegen, und man war in Rom, New York oder Singapur. Doch nun sind die meisten Reiseziele ganz praktisch wieder in weite Ferne gerückt.

Bis auf wenige Ausnahmen dürfte Urlaub in diesem Sommer lediglich in Deutschland möglich sein - in dem Land also, das man auf Reisen auch mal hinter sich lassen wollte. Wie schade! Oder nicht? Erleben wir in diesem Jahr womöglich die Wiederentdeckung des eigenen Landes als attraktives Urlaubsziel? Darüber spricht der Tourismusexperte Prof. Martin Lohmann im Interview mit dem dpa-Themendienst.

Liegt in der jetzigen Situation die Chance, dass sich Urlauber einmal richtig mit der eigenen Heimat beschäftigen?

Prof. Martin Lohmann: Die Chance gab es vorher auch, und sie blieb auch nicht ungenutzt. Deutschland war schon immer Urlaubsziel Nummer eins der Deutschen. Jetzt fehlt eher die Möglichkeit, woanders hin zu reisen. Aus dieser Not kann man die sprichwörtliche Tugend machen - Fehmarn statt Fuerteventura, Allgäu statt Anden.

Für ihre Urlaubsreisen suchen sich die meisten aber nicht die Heimat im engeren Sinn aus, die entdeckt man eher bei Ausflügen vom Wohnort aus. Auch davon wird es in diesem Jahr mehr geben als in der Vergangenheit, weil viele in diesem Jahr aus wirtschaftlichen oder Zeitgründen nicht reisen können oder wollen.

Das heißt, auch der größte Kosmopolit kann jetzt in Deutschland sein Reiseglück finden?

Lohmann: Jemand, der in der ganzen Welt zuhause ist, der ist es ja auch in Deutschland. Warum sollte er hier als Ferienmensch nicht glücklich werden können? Wie das geht, ist sicher für jeden individuell. Man darf die Anpassungsfähigkeit der Menschen nicht unterschätzen. Und die schönen Ziele in der Ferne sind ja nächstes Jahr auch noch da.

Hat der Urlaub in Deutschland bei Globetrottern zu Unrecht einen etwas spießigen Ruf?

Lohmann: Ja, hat er denn einen spießigen Ruf bei Globetrottern? Die Globetrotter trotten ja nicht durch die Welt, weil sie Deutschland doof finden, sondern weil sie etwas anderes kennenlernen möchten. Dafür muss man die Heimat nicht abwerten. Eichendorffs Taugenichts ist auch gerne wieder zurückgekehrt aus der Ferne.

Reist die Mehrheit der Deutschen nicht trotzdem lieber ins Ausland?

Lohmann: Den Deutschen stand als Touristen bislang nahezu die ganze Welt offen. Das haben sie mit vielen Auslandsreisen in immer entlegenere Ecken ausgenutzt und dabei wohl auch viel gewonnen an Erlebnissen, Erholung und Erfahrungen. Damit war und ist aber keine Ablehnung Deutschlands verbunden.

Können Nord- und Ostsee ein gleichwertiger Ersatz für Mallorca, Antalya oder Kreta sein?

Lohmann: Kommt drauf an: Badeurlaub kann man auch an unseren Küsten machen, mit der physischen Erholung klappt es hier vielleicht sogar besser. Mittelmeer-Flair und fremde Kultur gibt es aber nur im Süden. Die Ziele sind ganz sicher "ungleich" und jedes ist "wertig". Sie sind insofern austauschbar, als Urlauber in beiden Arten von Destinationen froh werden können.

Wenn wir dieses Jahr nicht ans Mittelmeer können, dann ist das für die Touristen bestimmt keine Katastrophe, für die Betriebe und Menschen in der Mittelmeerregion allerdings schon. Wenn wir in den kommenden Jahren auch nicht mehr über die Landesgrenzen hinauskämen, dann würde aber wirklich was fehlen.

Glauben Sie, dass Fernreisen jetzt erst einmal weniger beliebt sein werden? Wird Deutschland als Urlaubsziel dauerhaft profitieren?

Lohmann: Fernreisen, das waren 2019 nach den Daten der Reiseanalyse rund acht Prozent aller Urlaubsreisen, also immer noch ein recht exklusives Segment. Sicher werden das in diesem und im nächsten Jahr weniger werden, aber nicht mangels Beliebtheit, sondern weil das Angebot nicht zugänglich oder knapp ist.

Von der Pandemie oder genauer von den Maßnahmen zur Eindämmung der raschen Verbreitung des Corona-Virus profitiert im weltweiten Tourismus niemand - auch nicht Deutschland.

Was in den letzten drei Monaten in Panik zerdeppert wurde, lässt sich nirgendwo wieder aufholen. Eine möglicherweise stärkere Neigung zu Urlaub im Inland dürfte in einer angstfreien Gesellschaft rasch wieder verfliegen. Und es ist ja auch nicht so, als hätte Deutschland als Reiseziel vor der Corona-Pandemie schlecht dagestanden.

Zur Person: Prof. Martin Lohmann ist Geschäftsführer des Instituts für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa in Kiel.