Antholz. Biathletin Vanessa Hinz überrascht sich mit Silber im WM-Einzel selbst am meisten.

Abends bleibt der Fernseher meistens aus. Um nach turbulenten Tagen zu entspannen, greift Vanessa Hinz lieber zu einem Buch. „Ich kann dann in eine andere Welt fliehen“, sagt sie. Ausgerechnet bei Psychothrillern von Jo Nesbö oder Sebastian Fitzek findet sie zur Ruhe. Am Dienstag, im Einzelrennen bei der WM in Antholz, zählte die Bayerin selbst zu den Hauptdarstellerinnen in einem Südtiroler Krimi.

Am Ende fehlten ihr nach 15 Kilometern ganze 2,2 Sekunden zum ganz großen Triumph. Wie schon in der Verfolgung am Sonntag holte sich Südtirols Lokalmatadorin Dorothea Wierer trotz zweier Strafminuten den Titel. Hinz hatte indes gar nicht mitbekommen, wie knapp der Ausgang war: „Ich habe in der Umkleidekabine gezittert, dass es überhaupt für eine Medaille reicht.“ Es wurde nach einem Schießfehler letztlich Silber vor der Norwegerin Marte Olsbu Roeiseland (2).

Ihr Trainer Kristian Mehringer strahlte nach dem zweiten Edelmetall für das Frauenteam übers ganze Gesicht: „Auch wenn die zwei Sekunden natürlich ärgerlich sind: Wir haben Silber gewonnen, nicht Gold verloren.“ Er lobte den „Wettkampftyp“ Hinz, der sich in den Tagen von Antholz „sehr fokussiert“ präsentiert, und konnte auch mit den Resultaten der anderen Schützlinge gut leben: Franziska Preuß belegte nach zwei Schießfehlern Rang fünf; Denise Herrmann wurde 12. (4) und Karolin Horchler 26. (3).

Nach dreimal WM-Gold mit den deutschen Staffeln widmete Vanessa Hinz die erste Einzelmedaille ihrer Karriere den Liebsten zu Hause. Der erste Anruf galt der Mutter zu Hause in Schliersee. Und als sie ihre Schwester Viktoria unter den Zuschauern jubeln sah, flossen die ersten Freudentränen. „Sie hat am meisten mit mir gelitten in einer Saison, die sehr schwierig war“, sagte die frühere Skilangläuferin und verwies auf ihren schwachen Einstieg in den Winter. Bis zu den deutschen Meisterschaften im September war es richtig gut gelaufen. „Was dann im Oktober passiert ist, weiß ich selber nicht genau.“ Obwohl die 27-Jährige gesund war, kam sie „einfach nicht mehr auf die Füße.“

Nach dem indiskutablen 64. Platz im Sprint von Annecy, dem Weltcup-Ausklang 2019, hatte sie „sehr zu knabbern“. Doch ihre Familie baute sie über Weihnachten und Silvester auf. Hinz schaute weder auf die Uhr noch den Trainingsplan – und kam so wieder in Schwung.

Der fünfte Platz in der WM-Verfolgung fühlte sich wie ein Sieg an und sorgte für neue Zuversicht – auch wenn sie noch am Tag vor dem Einzel erklärte: „Ich stand in dieser Saison noch nicht auf dem Podium. Daher wäre es vermessen zu sagen, ich hole hier eine Medaille.“ Doch so unverhofft ihr Traum in Erfüllung ging, so sehr genoss sie den Moment bei der Siegerehrung am Abend.

Anschließend ging es nicht etwa gleich ins Bett: „Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Wer weiß, ob ich so einen Tag noch einmal erlebe“, sagte die Bayerin und fügte lächelnd hinzu: „Für einen Gin Tonic bin ich immer zu haben.“ Und den hatte sie sich wahrlich verdient.