Berlin. Bestimmt der Drang nach sexueller Befriedigung alles, spricht man von Sexsucht. Expertin Gaby Guzek über ständige Lust und echte Last.

Abhängig von Sex. Sie mögen es nicht glauben, aber vielleicht ist das die schlimmste Sucht überhaupt – wenn es eine solche „Hitliste“ überhaupt gibt. Und: Suchtforscher befürchten, dass hier ein Tsunami auf uns zurollt.

Die Anzahl der Betroffenen steigt sprunghaft an. Mehr als ein Drittel des weltweiten Internetdatenverkehrs geht auf Pornografie zurück. Unschwer, sich vorzustellen, was da draußen los ist.

Sexsucht: Die schlimmste Sucht überhaupt?

Sexsüchtige sind wirklich übel dran. Ihre ist moralisch geächtet, ja verachtet und schwimmt in einem Meer von Vorurteilen. Der Pornosüchtige ist ja der schräge Nerd, der nächtelang masturbierend Schmuddelfilme schaut. Promiske Männer gelten vielleicht noch als „besonders potent“, betroffene Frauen hingegen werden automatisch abschätzig bewertet. Ist der Betroffene in einer festen Partnerschaft oder geht gar ins Bordell, ist aber auch über ihn der Stab gebrochen. Dabei leiden die Betroffenen teilweise fürchterlich – und können genauso wenig aufhören wie ein Raucher, Trinker oder Junkie.

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Sex ist Dopamin pur: Sexuelle Erregung duscht unser Gehirn mit diesem Belohnungsbotenstoff, beim Orgasmus schüttet der Körper eine Riesenmenge Endorphine aus. Das sind die ultimativen Glücksgefühbringer. Endorphine ziehen nochmals einen Dopamin-Schub nach sich. Das Belohnungssystem ist gleich doppelt zufrieden, denn Sex ist ja gleichzeitig auch die Erfüllung eines urgenetischen Auftrages: der Fortpflanzung.

Und weil die ebenso wichtig ist, blendet unser Hirn für die Zeit der sexuellen Aktivität auch alles andere aus. Sorgen und Ängste verblassen, ein Orgasmus verschafft Entspannung, auch vom Alltagsstress. So weit, so schön und richtig.

Sexsucht: Beim Orgasmus schüttet der Körper Riesenmengen Endorphine aus.
Sexsucht: Beim Orgasmus schüttet der Körper Riesenmengen Endorphine aus. © Getty Images/iStockphoto | South_agency

Für manche Menschen kann diese Kombination aus Vergessen, Entspannung und Dopamin-Kick auch zur hirnchemischen Falle werden – und Pornografie ist in Zeiten des Internets so einfach und anonym geworden. Forscher sagen, dass heutzutage quasi jede Sexsucht mit Internetpornografie beginnt. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Pornogucker ein Suchtproblem hat. Es ist wie immer mit der Abhängigkeit: Manche können Pornografie spaßeshalber nutzen und bekommen kein Problem, andere aber bleiben daran nicht nur kleben, sondern verstricken sich immer mehr.

Internetpornografie – die schnelle Dopamin-Belohnung

Je früher man mit dem Thema Internetpornografie in Kontakt kommt, umso höher ist das Risiko, danach auch süchtig zu werden. Bedenkt man, dass heute bereits häufig Zehnjährige erstmals auf einschlägigen Seiten surfen, kann einem angst und bange werden.

Das Internet hat dem Thema Sexsucht einen echten Turbo verpasst. Nicht nur ist Internetpornografie leicht zugänglich, es kitzelt das Dopamin auch noch durch seine Schnelligkeit. Immer mehr, immer Neues, immer schneller – das findet Dopamin sowieso unglaublich chic und springt zuverlässig drauf an. Im realen Leben nimmt Sex nun mal eine gewisse Zeit in Anspruch, selbst der Quickie. Das Netz bietet Hunderte, ja Tausende neue Clips, mit einem schnellen Klick ist man im nächsten Akt.

Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie jede Woche verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit.
Autorin Gaby Guzek ist Wissenschaftsjournalistin und Coach. In unserer Serie „Raus aus der Sucht“ beleuchtet sie jede Woche verschiedene Süchte und Wege aus der Abhängigkeit. © Carmen Wilhelmer | Carmen Wilhelmer

Genau das bieten die einschlägigen Seiten – und sie sind auch ganz bewusst so aufgebaut. Am Surfverhalten wird erkannt, was den Nutzer besonders interessiert hat, und immer neue Clips flackern zielgerichtet über den Schirm. Allerdings legt hier die Software immer noch eine Schippe drauf. Ein Clip wird immer dabei sein, der in irgendeiner Form eine Nummer schärfer und härter ist. Denn nur das hält das Suchthirn wach und am Laufen.

Sexsucht in der Partnerschaft: Folgen für das Liebesleben

Die Folge: Selbst wenn ein Pornosüchtiger mit Blümchensex anfing, versinkt er irgendwann in Sadomaso oder Pädophilie – die Software der Pornoseiten sorgt dafür. Spätestens dann sterben die Betroffenen in einer Minute der Klarheit vor Scham. Noch viel schlimmer ist es, wenn dann der Partner durch einen Zufall sieht, was der Betroffene für hartes Zeug konsumiert. Der tränenreiche Schwur „Das bin nicht ich – ich weiß auch nicht, warum ich das schaue“ stößt auf null Verständnis. Wie auch.

Sexsucht ist nicht nur für Betroffene hart. Fliegt sie auf, ist der Partner schwer getroffen. Das Ganze wird oft noch dadurch verstärkt, dass Sexsüchtige im echten Leben häufig impotent werden. Auf Deutsch: Mit dem Partner läuft nicht viel bis gar nichts mehr. Der Grund ist die ständige Überstimulation. Anders ausgedrückt: Das ist die Toleranzentwicklung, die beispielsweise jeder Alkoholiker kennt. Es muss immer mehr sein, um noch einen Effekt zu spüren.

Fünf oder mehr Orgasmen täglich, meist durch Masturbation, sind für Sexsüchtige keine Seltenheit. Wer jetzt insgeheim dann doch vor solcher Potenz bewundernd erschauert, sollte das vielleicht überdenken: Die meisten Sexsüchtigen „wissen meist nicht mal mehr, was Sex wirklich ist“, sagt die englische Psychotherapeutin Paula Hall, die sich auf Sexsucht spezialisiert hat.

Ist ein Partner der Internetpornografie verfallen, lässt der Wunsch nach Sex in der Beziehung nach.
Ist ein Partner der Internetpornografie verfallen, lässt der Wunsch nach Sex in der Beziehung nach. © Getty Images | fizkes

Bei Sexsucht stirbt das sexuelle Verlangen

Sexsucht ist eher vergleichbar mit dem ständigen Wunsch von Essgestörten, sich den Mund zu füllen. Diese spüren auch keinen Hunger und stopfen sich trotzdem voll – genauso wenig hat der Sexsüchtige kein eigentliches sexuelles Verlangen. Beide suchen nach etwas völlig anderem: dem Dopamin-Kick.

Auch wenn Sexsüchtige „nur“ in Phase eins stehen bleiben, dreht sich die Suchtspirale schnell nach unten. Die Folgen sind nicht ander, als bei stoffgebundenen Süchten auch: Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, soziale Isolation. Das Thema Schuldgefühl ist bei dieser Sucht besonders groß – dafür sorgt die moralische Komponente. Viele Betroffene versinken so auf Dauer in Kummer und Depressionen – der nächste Porno verspricht kurzfristige Entlastung.

Zur Person

  • Gaby Guzek (56) ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
  • Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach unter gaby-guzek.com und in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
  • Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.

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Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen. HEYNE Verlag, Taschenbuch mit 224 Seiten, 13 Euro

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