Berlin. Im Kanzleramt gibt es eine Spezialeinheit – das Referat 612. Der Job ist undankbar: Die Politik der Ampel der Bevölkerung erklären.

Es waren ungewöhnliche Plakate, die Deutschland im vergangenen Sommer zu sehen bekam. „Liebe 80 Millionen“ hieß es da auf knalligem Lila, „wer Energie spart, stärkt Deutschlands Unabhängigkeit“. Das klang nicht nach Öko-Appellen und Zeigefingern, sondern nach unideologischem Energiepatriotismus. Botschaft: „Gemeinsam“, so bewältigen wir die Krise. Absender: Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Das Ungewöhnliche an dieser Kampagne: Eine Spezialeinheit aus dem Kanzleramt war beteiligt, das Referat 612 Verhaltenswissenschaften und bürgerzentrierte Politik, kurz „wirksam Regieren“. Hier dienen nicht Parteistrategen mit berufsbedingtem Tunnelblick, sondern Menschen aus der Wissenschaft, um eine der ärgsten Schwächen der Ampel-Regierung beizukommen: Politik glaubwürdig zu vermitteln, Menschen zu überzeugen, kurz: wirksam regieren.

Spezialeinheit im Kanzleramt: Krisenkommunikation in Dauerschleife

Referatsleiterin Sabrina Artinger ist Verhaltensforscherin, die sich mit der scheinbar banalen, aber hochkomplexen Frage befasst, wie ganz normale Menschen ihre Entscheidungen treffen. Aus reiner Vernunft? Eher nicht. Emotionen, Status, Gruppendruck oder auch Bequemlichkeit spielen eine oft unterschätzte Rolle. So kommen selbst gut gemeinte politischen Botschaften im Volk kaum noch an; die klassische politische Kommunikation fährt in aufgeregten Zeiten eine Schlappe nach der nächsten ein. Die Bürger sind misstrauisch und aufgebracht.

Die täglich frisch ins Kanzleramt gelieferten Umfragen mit ihrem schlichten Ja/Nein-Muster bilden die affektive Dimension, vulgo Gefühlswelt der Menschen gerade in Krisenzeiten nur unvollständig ab. Beim Verstehen, was 83 Millionen Einwohner bewegt, „können wir als Bundesregierung noch besser werden“, gesteht Benjamin Mikfeld, Abteilungsleiter „Politische Planung“, Artingers Chef und Untergebener zweier Juristen, die die affektive Dimension des Regierens nicht immer auf dem Schirm haben: Kanzler Olaf Scholz und sein Amtschef Wolfgang Schmidt.

„Die Kundenperspektive einnehmen“ – Woran politische Kommunikation scheitert

Bricht mal wieder der robuste Umgangston durch, den die Boy Group um Kanzler Scholz bisweilen anschlägt, dann lüpft Artinger kurz mal die Augenbraue. In Oxford, an der Columbia University und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo sie lernte und lehrte, herrschte ein gediegenerer Umgang. Die Geisteswissenschaftlerin Artinger passt nicht in die klassische Politik – und das macht sie besonders wertvoll.

Sabrina Artinger versteht ihr vierköpfiges Team mit Expertise in Psychologie, Ethnografie, Soziologie, Design Thinking, Markt- und Datenforschung als Brückenbaukommando, um die Kluft zwischen einer als realitätsfern wahrgenommenen politischen Blase und den Bürgern zu überwinden, nicht nur im Dienst des Kanzleramts, sondern als Beratungs- und Dienstleistungseinheit für alle Ressorts. Denn bei Ministerialjuristen, die Gesetze für Karlsruhe und Brüssel formulieren, ist nur auf eines Verlass: schwer verständliche Texte. Erfolgreiche Politik aber, so Artinger, müsse „die Kundenperspektive“ einnehmen. Und die ist manchmal überraschend anders.

Kanzler, Vizekanzler und zweiter Stellvertreter des Kanzlers: Die Kommunikation zwischen Olaf Scholz (SPD, von rechts), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) ist alles andere als geräuschlos.
Kanzler, Vizekanzler und zweiter Stellvertreter des Kanzlers: Die Kommunikation zwischen Olaf Scholz (SPD, von rechts), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) ist alles andere als geräuschlos. © AFP/Getty Images | Getty Images

Angela Merkel installierte die Spezialeinheit

Es war eine seltsame Geschichte aus Großbritannien, die Angela Merkel 2018 dazu bewog, das Referat 612 einzurichten. Die damalige Kanzlerin war verblüfft, als sie erfuhr, warum britische Hausbesitzer sich trotz Förderung sträubten, ihre Dächer zu dämmen. Der Grund war ausgesprochen lebensnah. Viele Dachböden waren über die Jahre systematisch vollgemüllt worden. Die Panik vorm Aufräumen wirkte stärker als der Dämmdruck, was natürlich kein Gesetzesdichter berücksichtigt hatte. Politiker sind nun mal selten zuhause.

Willkommen im Alltag, willkommen in der Verhaltenspsychologie. Deren Erkenntnisse nutzen die Milliardenkonzerne im Silicon Valley bereits seit zwei Jahrzehnten, um Nutzer länger ans Netz zu fesseln oder bereitwilliger auf „Jetzt kaufen“ drücken zu lassen. Ein ebenso eindrucksvoller wie zweifelhafter Erfolg der Verhaltenspsychologie war die Einführung des gereckten Facebook-Daumens für ein „Like“, weil er das Bedürfnis der Menschen nach Anerkennung bedient. Das Prinzip funktioniert leider prächtig angesichts der Mengen blühenden Unsinns, die täglich weltweit gepostet werden, nur für eine Handvoll Herzchen oder Daumen.

Komplizierte Anträge, neue Regeln in der Verwaltung: Viele blicken nicht mehr durch

So langsam kommt die Verhaltenspsychologie auch in der Politik an, um Fragen zu beantworten, denen Volksvertreter ratlos gegenüberstehen. Warum, fragt Artinger, ruft etwa eine Million Studierender die Soforthilfe von 200 Euro nicht ab, geschenktes Geld? Man weiß es nicht. Die Forschung ist im Gange, Ergebnisse stehen noch aus.

Klarer wird die Sache beim Formular zur elektronischen Identität, das Bürgern mit jedem neuen Personalausweis aushändigt wird. Offenbar versehen viele Beamte die Ausgabe des Dokuments mit dem augenzwinkernden Hinweis, dass sie selbst mit dieser E-Identität auch nicht klarkämen. Wie aber soll es auf der Digitalisierungsbaustelle Deutschland vorangehen, wenn selbst das staatliche Bodenpersonal nicht überzeugt ist?

Behörden und ihre Formulare bilden die wichtigste Schnittstelle, wo Staat direkt auf Bürger trifft. Und da knirscht es gewaltig. Für einen Wohngeldantrag sollte man sich einen Tag frei nehmen. Nun wird in „Formularlaboren“ an der Doppelaufgabe getüftelt, Anträge zu digitalisieren und verständlicher zu machen. „Hilft ja nicht, wenn ein digitaler Antrag genauso kompliziert ist wie auf Papier“, sagt Artinger.

Aber eine einfache Lösung, um eine in immer neuen Regeln und Anweisungen erstickende Verwaltung zurück zu den Bürgern zu holen, gibt es nicht. Allein eine „Untersuchung zur Verbesserung des Bürgerservices am Beispiel der KfZ-Zulassung“ hat vier Fachkräfte über Monate beschäftigt – mit Checklisten, Projektgruppen, Fragebögen, Mitarbeiter- und Kundenbefragungen.

Lesen Sie hier: Digitale Wüste – So könnten Bürger ihre Behörde verklagen

„Nicht kennen, nicht können, nicht wollen“

Die Dienste des Referats „Wirksam Regieren“ sind vor allem in Ausnahmesituationen gefragt, wie im vergangenen Sommer, als die Deutschen erstmals das Wort „Gasmangellage“ hörten. Artingers Team riet, den Aufruf zum Energiesparen nicht biestig ökologisch, sondern freundlich patriotisch zu intonieren. In der Pandemie überlegte Sabrina Artinger mit dem Expertenrat der Bundesregierung, wie Corona-Maßnahmen wirksam zu vermitteln seien. Ihre selbstkritische Einsicht: Den Sorgen von Impfskeptikern hätte die Politik mit mehr Aufklärung begegnen müssen. Das Abstempeln auch halbwegs normal tickender Mitmenschen als „Aluhüte“ hat weder dem Vertrauen in „die da oben“ noch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt gutgetan.

Manchmal sind es nur Begriffe, die Menschen abschrecken. „Transformation“ ist so einer. Kaum eine Politikerrede kommt ohne dieses scheinbar wohlklingende Abstraktum aus, das im Volk allerdings eher als unheimlich und bedrohlich wahrgenommen wird. „Nicht kennen, nicht können, nicht wollen“, so heißen laut Artinger die drei Motive, warum Menschen sich verweigern. Zumindest die ersten beiden ließen sich angehen, wären Verhaltenspsychologen bei jedem Gesetzesvorhaben von Anfang an dabei; nicht um inhaltlich einzugreifen, sondern auf unbeabsichtigte Folgen hinzuweisen.

„Liebe Duschfans“: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) stellte im vergangenen Jahr die Kampagne „80 Millionen gemeinsam für Energiewechsel“ vor.
„Liebe Duschfans“: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) stellte im vergangenen Jahr die Kampagne „80 Millionen gemeinsam für Energiewechsel“ vor. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Beim Heizungsgesetz wurde auf die Arbeit des Referats verzichtet

Ausgerechnet das Habeck-Ministerium, das als aufgeschlossen für die Arbeit des Referats 612 gilt, hat auf Beratung beim vermaledeiten Heizungsgesetz verzichtet. Statt der medial befeuerten Drohung „Ihr müsst sofort Eure Heizungen rausreißen“ hätte die Botschaft lauten können: „Du kannst eine Abwrackprämie abgreifen, falls Du gerade Deine Heizung austauschen willst“.

Dazu ein gut gestalteter Entscheidungsbaum, der alle berechtigten Fragen und Sorgen der Bürger auflistet und verständlich beantwortet. Hätten die Technokraten im BMWK den Rat von Artingers Team eingeholt, wäre das folgende Desaster möglicherweise vermieden worden.