Berlin. Hubert Aiwanger fällt seit Jahren durch Populismus auf. Nun gibt es Wirbel um ein antisemitisches Pamphlet – und um die Urheberschaft.

Es ist erst zwei Monate her, da überschreitet Hubert Aiwanger, Chef der "Freien Wähler" in Bayern, eine neue rote Linie. Aiwanger steht auf einem Podium in Erding, das Mikrofon in der Hand. Hinter ihm sitzt ein Mann in bayerischer Tracht, eine Frau im Dirndl. Daneben ein Plakat: "Stoppt die Heizungsideologie". Aiwanger, 52 Jahre alt, ruft in die Menge, manchmal brüllt er fast, spricht vom "Corona-Irrsinn", vom "links-grünen Gender-Gaga".

Und dann sagt er Sätze, für die er später sogar vom Regierungspartner CSU heftig angegriffen wird. Aiwanger spricht von der "schweigenden Mehrheit" der Deutschen, die "nicht mehr zum Schweigen gebracht" werden könne. Dann sagt er: "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit sich die Demokratie zurückholen" müsse. Und: "Ihr habt ja wohl den Arsch offen da oben."

Aiwanger selbst ist seit 2018 Vize-Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister. Nach diesen Worten bekam er Applaus von mehreren Tausend Zuschauern. Einer hielt ein Plakat hoch: "Ihr zwingt uns zu gar nichts". Mit "ihr" meint er die Bundesregierung. Rede, Applaus, Plakate – all das unterscheidet Aiwangers Auftritt kaum noch von Kundgebungen der in weiten Teilen extrem rechten AfD.

Hubert Aiwange stand wegen einer Rede in Erding heftig in der Kritik.
Hubert Aiwange stand wegen einer Rede in Erding heftig in der Kritik. © imago/Stephan Görlich | imago stock

Hubert Aiwanger: Antisemitisches Flugblatt aus Schulzeit aufgetaucht

Von "Populismus" ist nach der Rede in Erding zu lesen, vom "geistigen Brandstifter". Etwas, das Aiwanger seit Beginn seiner politischen Karriere immer wieder vorgehalten wird. Auch der Koalitionspartner CSU geht auf Distanz. Bayern wählt im Oktober einen neuen Landtag. Radikalisiert sich mitten im Wahlkampf immer weiter? Nach diesem Wochenende fragen manche: War Aiwanger immer schon so radikal?

Hintergrund ist ein antisemitisches Flugblatt aus Aiwangers Schulzeit, Ende der Achtziger. Aiwanger war damals 17 Jahre alt. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtet über das Schriftstück, das für einen angeblichen Bundeswettbewerb wirbt: "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" Als ersten Preis lobt der Autor aus: "Ein Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz." Und noch andere zynische und antisemitische Passagen sind in dem Flugblatt enthalten.

Die Schule erwischte Aiwanger damals mit diesen hetzerischen Pamphleten in seinem Schultasche. Und die Zeitung rekonstruiert mit Hilfe eines Gutachters und eines anderen Textes von Aiwanger aus der Zeit, dass es "sehr wahrscheinlich" von Aiwangers Schreibmaschine geschrieben wurde.

Antisemitisches Flugblatt : Aiwanger streitet erst ab – dann war es sein Bruder

Aiwanger stritt am Samstag zunächst über einen Sprecher ab, überhaupt etwas damit zu tun zu haben. Kurz danach meldete sich sein Bruder presseöffentlich zu Wort. Helmut Aiwanger sagte, er habe das Pamphlet geschrieben. Er distanziere sich, und bedaure. Es ist möglich, dass der Bruder Zugang zu Aiwangers Schreibmaschine hatte. Auch der Bruder war damals auf derselben Schule. Warum Hubert Aiwanger allerdings die Pamphlete in seiner Schultasche hatte und nicht sein Bruder, dafür gibt er keine Erklärung ab. Zweifel bleiben bestehen.

Antisemitisch war Aiwanger bisher nicht aufgefallen. Zugleich bedient er sich in seinen Reden gegen "die Elite" in Berlin, spricht von "Machenschaften". Das sind Ausdrücke, an denen sich durchaus auch antisemitische Ideologen bedienen. Seit 2006 macht Aiwanger Politik, er kam an die Spitze der Freien Wähler, ohne vorher je ein politisches Amt innegehabt zu haben. Der studierte Agrarwissenschaftler inszenierte sich als Politiker für Fleischesser, für Autofahrer, für Landwirte, für Naturschutz. Und von Beginn griff er politische Gegner in scharfen Ton an, sprach von "korrupten Eliten".

Aiwanger möchte der AfD erklärtermaßen die Wähler abspenstig machen.
Aiwanger möchte der AfD erklärtermaßen die Wähler abspenstig machen. © dpa | Uwe Lein

Wie bei der AfD stand die Kritik an der Euro-Politik von Kanzlern Angela Merkel zunächst auch im Zentrum der Freien Wähler. 2012 tauchte ein Foto von Aiwanger und AfD-Politikerin Beatrix von Stroch gemeinsam auf einer Bühne auf, fotografiert vom Journalisten Robert Andreasch. In einer Rede 2012 rief Aiwanger Merkel entgegen: "Komm rüber, du altes Schlachtross!" Schon 2006 nannte Markus Söder (damals noch CSU-Generalsekretär) ihn einen "Radikalen".

Foto mit AfD-Politikerin Beatrix von Storch bringt Aiwanger in Not

Aiwanger machte weiter, nannte Deutschland sicherer, "wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche haben dürfte". Selbst von der Polizei kam an der Äußerung Kritik. Zu Beginn der Corona-Pandemie sah Aiwanger im Starkbier noch den "natürlichen Feind des Coronavirus". Er war da Redner auf einem der bisher letzten Starkbierfeste in Niederbayern.

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Später warnte der Chef der "Freien Wähler" vor einer "Apartheidsdiskussion beim Impfen" – als gehe es um eine gesellschaftliche Spaltung wie bei der Rassentrennung in Südafrika. Aiwanger selbst ließ sich monatelang nicht impfen. Damals war er schon Vize-Ministerpräsident in Bayern. Später hieß es, er lasse das Impfen "auf sich zukommen". Er sei kein Impfgegner, aber auch kein "Impf-Euphoriker". Tatsächlich ließ er sich dann doch gegen das Coronavirus impfen.

Söder regiert mit Aiwanger inzwischen seit 2018. Aiwangers "Freie Wähler" sind voll auf ihn zugeschnitten, und Aiwanger auf die Partei. In Umfragen legen die Freien Wähler leicht zu. Als die AfD zu Beginn des Jahres auch in Bayern stärker wurde, setzte er mehr auf Themen der Populisten: Migration und Kriminalität.

Aiwanger sagt, er wolle die Wählerinnen und Wähler abholen, die zur AfD driften – die am ganz rechten Rand politisch zuhause sind. Das klingt nach einem Auftrag im Namen der Demokratie. Doch nach Jahren der Populismus-Vorwürfe und den neuen Details zu dem antisemitischen Pamphlet aus den Jugendjahren wachsen erneut Zweifel daran, ob die Unterschiede zwischen Aiwanger und der AfD noch groß sind.

ParteiAlternative für Deutschland (AfD)
Gründung6. Februar 2013
IdeologieRechtspopulismus, Nationalkonservatismus, EU-Skepsis
VorsitzendeTino Chrupalla und Alice Weidel (Stand: April 2023)
Fraktionsstärke83 Abgeordnete im Bundestag (Stand: April 2023)
Bekannte MitgliederJörg Meuthen (ehemals), Alexander Gauland, Björn Höcke