Brüssel/Berlin. Der AfD-Höhenflug besorgt Europa. Kommt es zu einem Rechtsruck in der EU? Ein Parteienforscher sieht die Partei in einer Zwickmühle.

Die Umfrage-Erfolge der AfD sorgen nun auch im europäischen Ausland für Aufregung. Die AfD sei eine „Gefahr für die europäische Stabilität“, warnt etwa die französische Europa-Staatsministerin Laurence Boone. Die AfD wolle die EU zerstören, sie sei „gegründet im Hass auf einen Sündenbock“, sagte Boone dem TV-Nachrichtenkanal LCI. „Das letzte, was das Land braucht“, überschreibt das britische Magazin Economist einen Bericht über die steigenden Zustimmungswerte der AfD, die der deutschen Wirtschaft große Sorge bereite. Die besondere Aufmerksamkeit für die deutschen Rechtsaußen hat zwei Gründe.

In den europapolitischen Positionen sind erstens nur wenige Rechtspopulisten in Europa so radikal wie die AfD. Die erklärt in ihrem neuen Programm für die Europawahl im Juni 2024: „Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt“. Ein rechter Aufschwung im größten EU-Land könnte zudem zweitens das Symbol für einen Rechtsruck in Europa sein. „Ich befürchte, dass europafeindliche Kräfte weiter Zulauf bekommen“, sagt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich unserer Redaktion. Er spricht von „großer Sorge“ mit Blick auf die Europawahl. „Die Herausforderung durch den Rechtspopulismus in Europa ist gestiegen. Das gilt auch für die AfD, die mit ihrem europafeindlichen Kurs zu viele Protestwähler mobilisieren könnte.“

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Parteienforscher Decker: Bei Europawahlen werden rechte Parteien zulegen

Der Parteienforscher Frank Decker stimmt zu: „Wir müssen davon ausgehen, dass die rechten Parteien bei den Europawahlen einen nochmaligen Zuwachs erleben werden.“ Die Entwicklung sei nicht auf Deutschland beschränkt, sagt der Bonner Politikwissenschaftler unserer Redaktion. „Aber die AfD wird kräftig dazu beitragen, nachdem sie bei der letzten Europawahl mit zehn Prozent unter ihren Erwartungen geblieben ist. Europawahlen haben Blitzableiter-Charakter für die Innenpolitik, davon kann die AfD profitieren.“

Nach aktuellen Prognosen werden die Rechtsaußen-Parteien bei den EU-Wahlen deutlich zulegen und auf über 20 Prozent kommen. Die beiden rechten Fraktionen im EU-Parlament, EKR und ID, könnten demnach zusammen 180 der 705 Abgeordneten stellen, hinzu kämen ein Dutzend Abgeordnete der ungarischen Fidesz-Partei. Christ- und Sozialdemokraten, Liberale und Grüne dürften Mandate verlieren.

Die Rechtspopulisten wären dann zwar noch weit entfernt von einer eigenen Gestaltungsmacht. Aber in den Mitgliedsländern sieht es schon anders aus, nicht nur in Polen und Ungarn: In Schweden und Finnland sind sie Juniorpartner in der Regierung mit Christdemokraten, in Italien bildet die rechtsextreme Lega mit Giorgia Melonis postfaschistischer Fratelli d’Italia und den Konservativen eine Regierung. In Frankreich hat sich Marine Le Pens Rassemblement National als zweitstärkste Kraft im Land etabliert. In Österreich liegt die rechte FPÖ ein Jahr vor den nächsten Nationalratswahlen in Umfragen stabil auf Platz eins mit aktuell 30 Prozent.

Dier Vorsitzende der französischen Rechtsnationalisten Rassemblement National (RN), Jordan Bardella, mit seiner Vorgängerin im Amt, der mehrmaligen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen. Die Partei hat wie andere Rechtspopulisten in Europa ihre Rhetorik abgemildert und sich damit neue Wählerschichten erschlossen.
Dier Vorsitzende der französischen Rechtsnationalisten Rassemblement National (RN), Jordan Bardella, mit seiner Vorgängerin im Amt, der mehrmaligen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen. Die Partei hat wie andere Rechtspopulisten in Europa ihre Rhetorik abgemildert und sich damit neue Wählerschichten erschlossen. © dpa | Michel Euler

Vor diesem Hintergrund will die AfD jetzt ihre Drähte zu den erfolgreichen Rechtsparteien auf EU-Ebene stärken. Dafür wird sie auf Betreiben der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla nun doch der europäischen Dachpartei der Rechten „Identität und Demokratie“ (ID) beitreten. Die ID, der zehn Parteien von der FPÖ über Le Pens RN bis zur Lega angehören, sei „eine sehr gut geeignete Plattform, um die Vernetzung mit europäischen Schwesterparteien der AfD weiter voranzutreiben“, beschlossen die Delegierten des AfD-Parteitags Ende Juli. Der Betritt sei „elementar wichtig für die AfD“, sagt Weidel.

Zu radikal – AfD bei europäischen Rechtsparteien nicht erwünscht

Fraglich allerdings, ob die Rechnung so einfach aufgeht: „Die Positionen der AfD sind selbst für die Fraktion Identität und Demokratie (ID), die den harten Kern der Rechtspopulisten versammelt, zu radikal – so isoliert sich die AfD“, sagt Parteienforscher Decker. Die Parteiführung habe zwar versucht, das Europa-Wahlprogramm zu entschärfen und doch nicht den Austritt oder die EU-Auflösung zu fordern, das sei aber nicht wirklich gelungen. „Hier unterscheidet sich die AfD mit ihrer antieuropäischen Position ziemlich von den beiden anderen Hauptvertretern in der ID, der italienischen Lega und der RN von Marine Le Pen“, sagt Decker.

Le Pen habe radikale Positionen abgeräumt, weil sie sonst keine Chance auf Mehrheitsfähigkeit hätte. „Und die Lega war schon mehrfach Teil der italienischen Regierung – das zwingt zur Mäßigung bei europapolitischen Positionen.“ In der AfD aber hätten sich die radikaleren Kräfte durchgesetzt, auch in der Kandidatenliste für die Europawahl, die der sächsische Europaabgeordnete Maximilian Krah anführt, bilanziert der Parteienforscher. Dass sie mit ihren radikalen Positionen keine Chance auf eine Regierungsbeteiligung habe, führe dazu, „dass sie sich weiter radikalisiert.“

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Zwar rissen sich beim Parteitag die AfD-Funktionäre um sichere Listenplätze für das EU-Parlament, doch zugleich fordert die AfD nun, dieses Parlament aufzulösen. Deutschland soll raus aus dem Euro und unter Umständen auch aus der EU (Dexit). Bei wichtigen Treffen der europäischen Rechtsparteien ist die AfD mit ihrem radikalen Kurs nicht erwünscht – zuletzt blieb sie Anfang Juni draußen, als Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zum Vernetzungsgipfel europäischer Rechtsparteien lud.

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Decker: „Wenn es zu einer Wagenknecht-Partei kommt, hätte die AfD ein Problem“

Die Linken-Abgeordnete Sahra Wagenknecht überlegt offenbar, eine neue Partei zu gründen - sie könnte erstmals zur Europawahl antreten.
Die Linken-Abgeordnete Sahra Wagenknecht überlegt offenbar, eine neue Partei zu gründen - sie könnte erstmals zur Europawahl antreten. © dpa | Michael Kappeler

Und auf den zweiten Blick ist auch ein Erfolg bei der Europawahl noch gar nicht sicher. Das Risiko beschreibt Parteienforscher Decker so: „Wenn es zu einer Wagenknecht-Partei kommt, hätte die AfD ein Problem.“ In einem solchen Fall liege es nahe, dass die Partei von Sahra Wagenknecht erstmals zur Europawahl antreten würde und die Bühne des EU-Parlaments dann nutze, um die deutsche Innenpolitik anzusprechen – Marine Le Pen und der britische EU-Kritiker Nigel Farage hätten es einst genauso gemacht.

Das könnte für Wagenknecht ein Momentum schaffen für die folgenden drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, meint Decker. Sie würde einem Teil der AfD-Wählerschaft ein noch attraktiveres Angebot als die AfD: Wagenknecht vertrete gesellschaftspolitisch restriktive Positionen, etwa zur Migration, die – in gemäßigter Ausprägung – den AfD-Positionen ähnelten.

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Auch die Politik in Bezug auf Russland sei ähnlich. „Andererseits vertritt Wagenknecht in der Wirtschafts- und Finanzpolitik linke Positionen, fordert mehr Staat, mehr Umverteilung.“ Da gebe es Ähnlichkeiten zu Le Pen, die den Wohlfahrtsstaat in Frankreich auch ausbauen wolle – aber nur für die Einheimischen. „Bei einem Teil der AfD-Wählerschaft verfangen diese linken Positionen in der Wirtschaft eher als die marktliberalen AfD-Positionen“, sagt Decker. „Das ist brandgefährlich für die AfD.“