Berlin. Kaum jemand prägte die deutsche Politik wie der CDU-Politiker. Ein Blick auf die Höhepunkte und die dunkelsten Stunden seiner Karriere.

Es war ein Leben aus dem Geschichtsbuch: Wolfgang Schäuble hat die politischen Geschehnisse der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen fünf Jahrzehnten geprägt wie kaum jemand anders. Von der deutschen Einheit über die Nachwendezeit bis zur Eurokrise beeinflusste der Badener die deutsche Politik entscheidend, als Innenminister, Finanzminister und Bundestagspräsident. Am Abend des zweiten Weihnachtstags starb Schäuble im Kreis seiner Familie im Alter von 81 Jahren.

Wolfgang Schäuble führte ein Leben für die Politik, auch nach dem Anschlag am 12. Oktober 1990. Ein psychisch kranker Mann schoss bei einer Wahlkampfveranstaltung auf den CDU-Politiker. Schäuble war seitdem vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt und musste im Rollstuhl sitzen. Den gebürtigen Freiburger hielten seine gesundheitlichen Einschränkungen nie davon ab, in höchste politische Ämter zurückzukehren. Die Welt der politischen Entscheidungen, des Staatsapparats, der Macht waren das Leben von Wolfgang Schäuble.

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Parlamentsrekord: 50 Jahre im Bundestag

Sie sei mit ihrem Mann verheiratet, „ohne vergrämt zu sein“, sagte Schäubles Ehefrau Ingeborg einmal. Als Frau des Spitzenpolitikers habe sie gelernt, „relativ selbstständig zu leben, auf ausgiebig gemeinsame Zeit zu verzichten und viel Verständnis zu zeigen“. Stets unterstützte Ingeborg Schäuble ihren Mann, erst zuletzt trat er kürzer, um ihr zu helfen. Nach einem schweren Fahrradunfall im vergangenen Juli musste Ingeborg Schäuble notoperiert werden, drei Monate lag sie auf der Intensivstation.

ParteiChristlich Demokratische Union Deutschlands (CDU)
Gründung26. Juni 1945
IdeologieChristdemokratie, Konservatismus, Liberalismus, Europäische Integration
VorsitzenderFriedrich Merz (Stand: Dezember 2023)
Fraktionsstärke152 Abgeordnete im Bundestag (Stand: Dezember 2023)
Bekannte MitgliederAngela Merkel, Ursula von der Leyen, Jens Spahn

Das Paar war seit 1969 verheiratet. Drei Jahre später zog der studierte Jurist im Wahlkreis Offenburg erstmals als direkt gewählter Abgeordneter in Bundestag ein. Bis zuletzt hatte der evangelische Christdemokrat seinen Sitz inne – mehr als fünfzig Jahre lang, immer als direkt gewählter Kandidat. In der Geschichte des deutschen Parlamentarismus übte seit 1871 sein Mandat niemand so lange aus wie Schäuble.

Das Leben von CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble in Bildern

Wolfgang Schäuble saß so lange im Bundestag wie kein anderer. Seine große Zeit begann 1989 als Bundesinnenminister, hier 1989 bei einem CDU-Parteitag.
Wolfgang Schäuble saß so lange im Bundestag wie kein anderer. Seine große Zeit begann 1989 als Bundesinnenminister, hier 1989 bei einem CDU-Parteitag. © DPA Images | Harry Melchert
Von 1984 bis 1989 war Schäuble Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes von Helmut Kohl.
Von 1984 bis 1989 war Schäuble Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes von Helmut Kohl. © imago images/bonn-sequenz | via www.imago-images.de
Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister, und der DDR-Staatsekretär Guenter Krause bei der Unterzeichnung des Einigungsvertrags in Berlin. Schäuble war bei der Wiedervereinigung einer der Verhandlungsführer.
Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister, und der DDR-Staatsekretär Guenter Krause bei der Unterzeichnung des Einigungsvertrags in Berlin. Schäuble war bei der Wiedervereinigung einer der Verhandlungsführer. © picture alliance / dpa | Wolfgang Kumm
Ein enges Verhältnis verband Wolfgang Schäuble über lange Jahre mit Helmut Kohl. Später wurden beide erbitterte Gegner.
Ein enges Verhältnis verband Wolfgang Schäuble über lange Jahre mit Helmut Kohl. Später wurden beide erbitterte Gegner. © DPA Images | Franz-Peter Tschauner
Am 12. Oktober 1990 wurde Wolfgang Schäuble bei einer CDU-Wahlkampfveranstaltung in seinem Wahlkreis in Oppenau/Mittelbaden von einem Attentäter durch zwei Schüsse aus einem Revolver schwer verletzt. Schäuble kämpfte sich zurück ins politische Leben und ist seitdem auf den Rollstuhl angewiesen.
Am 12. Oktober 1990 wurde Wolfgang Schäuble bei einer CDU-Wahlkampfveranstaltung in seinem Wahlkreis in Oppenau/Mittelbaden von einem Attentäter durch zwei Schüsse aus einem Revolver schwer verletzt. Schäuble kämpfte sich zurück ins politische Leben und ist seitdem auf den Rollstuhl angewiesen. © picture-alliance / dpa | Norbert Försterling
Zeitweise war Wolfgang Schäuble Fraktionsvorsitzender der CDU-CSU Bundestagsfraktion und CDU-Chef.
Zeitweise war Wolfgang Schäuble Fraktionsvorsitzender der CDU-CSU Bundestagsfraktion und CDU-Chef. © DPA Images | Torsten Silz
Nachfolgerin Schäubles an der CDU-Spitze wurde Angela Merkel.
Nachfolgerin Schäubles an der CDU-Spitze wurde Angela Merkel. © DPA Images | Thomas Köhler
Am 22. November 2005 leistete Wolfgang Schäuble vor Bundestagspräsident Norbert Lammert seinen Amtseid als Innenminister.
Am 22. November 2005 leistete Wolfgang Schäuble vor Bundestagspräsident Norbert Lammert seinen Amtseid als Innenminister. © DPA Images | Peter Kneffel
Das Verhältnis zwischen Schäuble und Merkel war nicht immer störungsfrei. Im Laufe der Jahre wurde Schäuble jedoch zu einem der engsten und wichtigsten Vertrauten der ehemaligen Bundeskanzlerin.
Das Verhältnis zwischen Schäuble und Merkel war nicht immer störungsfrei. Im Laufe der Jahre wurde Schäuble jedoch zu einem der engsten und wichtigsten Vertrauten der ehemaligen Bundeskanzlerin. © DPA Images | Wolfgang Kumm
Auf der Regierungsbank im Bundestag war Wolfgang Schäuble in verschiedenen Rollen viele Jahre präsent.
Auf der Regierungsbank im Bundestag war Wolfgang Schäuble in verschiedenen Rollen viele Jahre präsent. © DPA Images | Kay Nietfeld
Seine Urlaube verbrachte Schäuble gern mit Ehefrau Ingeborg auf Sylt.
Seine Urlaube verbrachte Schäuble gern mit Ehefrau Ingeborg auf Sylt. © DPA Images | Jens Kalaene
Zwei, die sich nicht so gut verstanden: Wolfgang Schäuble und der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis lieferten sich während der Griechenland-Euro-Krise so manche Verhandlungsschlacht.
Zwei, die sich nicht so gut verstanden: Wolfgang Schäuble und der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis lieferten sich während der Griechenland-Euro-Krise so manche Verhandlungsschlacht. © DPA Images | Olivier Hoslet
Sein letztes großes Amt als Bundestagspräsident hatte Wolfgang Schäuble bis 2021 inne. Insgesamt war er mehr als 50 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages.
Sein letztes großes Amt als Bundestagspräsident hatte Wolfgang Schäuble bis 2021 inne. Insgesamt war er mehr als 50 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages. © FUNKE Foto Services | Reto Klar
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Helmut Kohl berief Schäuble in die Regierung

Seine Karriere in Regierungsämtern begann 1984: CDU-Kanzler Helmut Kohl berief Schäuble zum Bundesminister für besondere Aufgaben und zu seinem Kanzleramtschef. Nach seinem Wechsel an die Spitze des Bundesinnenministeriums im Frühjahr 1989 verhandelte Schäuble 1990 die Staatsverträge zur deutschen Wiedervereinigung. Der am 31. August 1990 im Ost-Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden unterzeichnete Einigungsvertrag trägt Schäubles Unterschrift.

Im folgenden Jahr warb Schäuble in einer emotionalen Rede im Bundestag dafür, Berlin zum Regierungssitz des wiedervereinigten Landes zu machen. Das Parlament stimmte zu – damals eine umstrittene Entscheidung. Die Stimmung in der alten Bundeshauptstadt Bonn beschrieb Schäuble vor wenigen Wochen in einem Interview mit dieser Redaktion: „An den Brücken hingen Transparente mit der Aufschrift: ‚Stoppt Schäubles Wahnsinn‘. Ich bin eine Zeit lang gar nicht in Bonn aufgetreten und selbst Jahre später, bei einem Besuch der Universität, brauchte es ein gewisses Polizeiaufgebot.“

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (links) und DDR-Staatssekretär Günther Krause bei der Unterzeichnung der Urkunden zum Einigungsvertrag am 31. August 1990.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (links) und DDR-Staatssekretär Günther Krause bei der Unterzeichnung der Urkunden zum Einigungsvertrag am 31. August 1990. © picture alliance / dpa | Wolfgang Kumm

Nach dem Attentat zweifelte Schäuble an einem Leben im Rollstuhl

Die Verhandlungen zur Wiedervereinigung waren bis dahin der Höhepunkt in Schäubles Karriere. Der damals 47-Jährige strotzte vor Energie, Bilder aus den Jahren zeigen einen sportlichen Mann in kurzen Hosen und Pullunder beim Tennis. Im Oktober 1990 folgte der Tag, der sein Leben für immer veränderte: Von hinten feuerte ein unter Verfolgungswahn leidender Angreifer zwei Schüsse aus einem Revolver auf Schäuble, eine Kugel traf seinen Kiefer, die andere bohrte sich ins Rückenmark. Als der Querschnittsgelähmte im Krankenhaus aus dem Koma erwachte, zweifelte er am Sinn eines Lebens im Rollstuhl: „Ich weiß gar nicht, ob ich… ob ich so will.“

Doch Schäuble kämpfte sich zurück, ins Leben, in die Politik. Journalisten, Verhandlungspartnern, politischen Freunden und Gegnern machte er klar: „Ich will keinen Rabatt.“ Seine Frau Ingeborg hätte es damals gerne gesehen, wenn sich ihr Mann aus der Politik zurückgezogen hätte. Schäuble fragte sie damals: „Willst du wirklich, dass ich dann ohne alles bin?“

Wolfgang Schäuble (CDU) und seine Frau Ingeborg Schäuble.
Wolfgang Schäuble (CDU) und seine Frau Ingeborg Schäuble. © picture alliance/dpa | Jens Kalaene

In der Eurokrise war Schäuble in Griechenland verhasst

Wiederholt berichtete der Vater von vier Kindern von den Beschwerlichkeiten eines querschnittsgelähmten Spitzenpolitikers. Aber: „Ich habe immer versucht, den Rollstuhl nicht zu inszenieren“, betonte Schäuble einmal. Als er während der Euro-Schuldenkrise als Angela Merkels Finanzminister Europas strengster Sparer war, achtete Schäuble bei den Vorfahrten zur den unzähligen Krisensitzungen der Eurogruppe in Brüssel darauf, niemals dabei gefilmt zu werden, wie er mit Hilfe seiner Bodyguards vom Rücksitz seiner Limousine in den Rollstuhl gehoben wurde.

In Griechenland war Schäuble damals verhasst, weil er gegenüber dem hoch verschuldeten Staat auf einem rigiden Sparkurs bestand. Sogar einen zeitweiligen Rauswurf des Landes aus dem Euro schloss er nicht aus. Galt der Deutsche in Südeuropa in den Jahren als möglicher Zerstörer des europäischen Zusammenhalts, sehen Anhänger Schäubles in ihm einen großen Europäer, der den Euro vor dem Zusammenbruch rettete.

Bis zuletzt war Schäuble eine Respektsperson in der CDU

Schäuble, der seine Herkunft aus dem Schwarzwald weder im Deutschen und schon gar nicht beim Englisch sprechen verbergen konnte, prägte im Februar 2015 in Bezug auf ein auslaufendes Hilfsprogramm für Griechenland den Satz: „Am 28., 24 Uhr, isch over.“ Das wurde damals als Drohung verstanden. Eine harte Sparpolitik verlangte der Finanzminister aber auch seinen Kabinettskollegen ab: Mehrere Jahre hintereinander legte er einen Haushalt mit einer „schwarzen Null“ vor, also ohne Neuverschuldung.

Nachdem im November das Bundesverfassungsgericht der schuldenfinanzierten Haushaltspolitik der Ampel-Regierung den Boden entzog, bat Unionsfraktionschef Friedrich Merz seinen Vertrauten und jahrelangen Förderer, vor den CDU/CSU-Abgeordneten um eine Einschätzung der Lage. Schäuble galt wegen seiner großen Erfahrung und seines scharfen Intellekts bis zuletzt als Respektsperson und geschätzter Ratgeber in CDU und CSU. Als die Union sich vor der Bundestagswahl 2021 entschied, die Kanzlerkandidatur Armin Laschet und nicht Markus Söder zu übertragen, spielte Schäuble eine entscheidende Rolle.

Knapp sechs Wochen nach dem Attentat begibt sich Wolfgang Schäuble in seinem Rollstuhl am 22.11.1990 in der Rehabilitationsklinik Langensteinbach bei Karlsruhe zu seiner ersten Pressekonferenz.
Knapp sechs Wochen nach dem Attentat begibt sich Wolfgang Schäuble in seinem Rollstuhl am 22.11.1990 in der Rehabilitationsklinik Langensteinbach bei Karlsruhe zu seiner ersten Pressekonferenz. © picture-alliance / dpa | Norbert Försterling

Die CDU-Spendenaffäre ist der Tiefpunkt von Schäubles Karriere

Seine schwärzesten Stunden als Politiker sind allerdings auch eng mit seiner Partei verbunden. Nach der Wiedervereinigung schied Schäuble aus der Regierung aus und stand Helmut Kohl ab 1991 als Unionsfraktionschef zur Seite. Kohl erklärte, dass er sich Schäuble als Nachfolger im Kanzleramt wünsche, doch dazu kam es nicht. Schäuble wollte es nicht als Makel seiner Laufbahn sehen, dass er nie Kanzler wurde.

Die politische Männerfreundschaft mit Kohl zerbrach schließlich an der CDU-Spendenaffäre, in der Schäuble 1994 von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Barspende über 100.000 Mark annahm. Schäuble hatte damals neben dem Fraktionsvorsitz auch das Amt des CDU-Parteichefs inne. Beide Posten musste er im Februar 2000 unter dem Druck der Affäre aufgeben.

„Ich bin einsam“, sagte Schäuble kürzlich dem „Spiegel“. Aus seiner Politikergeneration sei niemand mehr da. „Ich kann mein Leben jetzt betrachten, wie es zu Ende geht.“